Elektronische Gesundheitskarte: Am Anfang ist Halbzeit

Unter dem Titel "bit for bit - auf dem Weg zur Telematikinfrastuktur" tagte in Berlin die Telemed 2005.

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Von
  • Detlef Borchers

Unter dem Titel "bit for bit - auf dem Weg zur Telematikinfrastuktur" tagte in Berlin die Telemed 2005. Mediziner, Informatiker und die Vertreter verschiedener Verbände gaben einen Sachstandsbericht zur Einführung der Gesundheitskarte, komplett mit unterschiedlich phantasievollen Interpretationen, was die Halbzeit anbelangt.

Ministerialdirigent Norbert Paland, Projektleiter Gesundheitskarte beim Gesundheitsministerium (BMGS) führte aus, welch massives IT-Projekt hinter der Karte steht. Vom Start weg müsse das System Millionen von Anfragen der Apotheker und Ärzte verkraften können. Allein das eRezept sorge dafür, dass tagsüber 8500 Zugriffe in der Minute erfolgen, was eine extrem leistungsfähige Backend-Struktur voraussetze. Paland bezeichnete das eRezept als die "Killeranwendung" des Gesundheitssystems. Er gab sich zuversichtlich, dass die notwendigen gesetzlichen Anpassungen zur einheitlichen lebenslagen Versicherungsnummer die 2. und 3. Lesung im Bundestag am 15. April wie die Hürde des Bundesrates am 29. April nehmen werden. Alle Beteiligten erinnerte Paland daran, dass das Ministerium nach wie vor eine Ersatzvornahme einleiten kann, wenn die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen mit ihrer gemeinsam getragenen Projektfirma Gematik in Verzug gerät: In diesem Spiel kann auch der Schiedsrichter einen Ball treten.

Heinz Theo Rey von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gab einen Bericht zur Lage der Kassenärzte, die durchschnittlich 2200 Euro in Lesegeräte und Konnektoren investieren müssen, um bei der Gesundheitskarte dabei zu sein. Die Durchschnittzahlen relativierte seine Einschätzung, dass bis zu 45.000 Vertragsarztpraxen eine komplett neue EDV brauchen, die ungefähr 10.000 Euro kosten dürfte. Zusätzlich gebe es in Deutschland noch 28.000 Kassenarztpraxen von insgesamt 124.000, die noch ohne jede EDV arbeiteten und nun die nötige SAVeD-Hardware (Sicherer Anbindungs- und Vermittlungsdienst) anschaffen müssen, um an das KV-SafeNet angeschlossen werden zu können, das die Zertifikate des Arztausweises überprüft. Den Ausgaben stehen Gutschriften für das eRezept gegenüber, die Rey mit 30-50 Euro pro Praxis und Jahr angab.

Herbert Weber, Projektleiter der 120 Fraunhofer-Wissenschaftler, die die auf der CeBIT vorgestellte Lösungsarchitektur in nur 4 Monaten entwickelt hatte, stellte den Telematik-Fachleuten die Grundprinzipien dieser Architektur vor. Weber warnte vor Missverständnissen der Art, dass Ärzte, Apotheker und Patienten sich alle in demselben Netz tummeln würden. Vielmehr sei es so, dass technisch keine Vermischung der VPN-Kanäle möglich sei. Er versuchte den Teilnehmern das ZIS-System (Zugangs- und Informationssicherheits-System) zu erklären, welches dafür sorgt, dass Ärzte wie Apotheker nicht direkt auf die Daten der Krankenkassen zugreifen, sondern nur auf "virtuelle Bilder" dieser Daten.

Als Vertreter der Projektgesellschaft Gematik meinte Frank Hackenberg in seinem Vortrag, dass der Rollout der Gesundheitskarte etwa 1,5 Jahre benötigen werde. Der Informatiker Paul Schmücker machte auf eine "vergessene" Dimension der Gesundheitskarte, die Langzeitarchivierung medizinischer Daten über mindestens 30 Jahre hinweg aufmerksam. Allein in den Krankenhäusern werde pro Jahr und Bett ein laufender Meter an Dokumentationsakten produziert. Zusammen mit den Arztbriefen und den Dokumentationen der Ärzte seien dies 2,2 Milliarden Dokumente jährlich, die langfristig aufbewahrt werden müssten, während Schlüsselalgorithmen und Zertifikate kurzfristig verfallen können. Er stellte die Projekte ArchiSig und TransiDoc vor, bei denen Zeitstempel das Dokumentenmanagement absichern.

Gleich mehrere Vorträge und eine längere Einlassung in der abschließenden Podiumsdiskussion zur Gesundheitskarte befassten sich mit der Rolle der Pflegedienste, die in der telematischen Lösungsarchitektur nicht vorkommen. In Deutschland arbeiten 1 Million Menschen in Pflegeberufen, verfügen über keinen Heilberufsausweis (HBA bzw. HPC, Health Professional Card). Derzeit gibt es 2,3 Millionen pflegebedürftige Menschen mit steigender Tendenz: im Jahre 2050 wird ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein. Ursula Hübner vom Netzwerk für Versorgungskontinuität forderte HBA-Karten für Pfleger und Pflegerinnen, die vor allem bei der Medikamentation und Beobachtung bettlägeriger Patienten eine wichtige Rolle spielen. Martin Zünkler von der Caritas Bochum, gleichzeitig Geschäftsführer von CoM.Med forderte die Integration einer ePflegeakte in die Gesundheitstelematik und Marie-Luise Müller, die Präsidentin des Deutschen Pflegerates nannte es einen Skandal, dass die professionelle Pflege von der Gesundheitskarte ausgeschlossen ist. In der nächsten Halbzeit sollten die Pfleger als Spieler auflaufen können, versicherte Lutz Sindermann vom BMGS, der betonte, dass weitere Berufsgruppen perspektivisch nach der allgemeinen Einführung der Karte einbezogen würden.

Zur elektronischen Gesundheitskarte und der Reform des Gesundheitswesens siehe auch:

(Detlef Borchers) / (se)