Schule Digital: Lernplattformen und die zu geringen Bandbreiten der Politik

Haben Sie das mit den vielen verschiedenen Lernplattformen verstanden? Oder was Lernmanagementsysteme sind? Joachim Paul bringt etwas Licht ins Dunkel.

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(Bild: heise online/vbr)

Lesezeit: 36 Min.
Von
  • Joachim Paul
Inhaltsverzeichnis

"Nicht das ist wichtig für den Staat, dass er die gleichen Dinge etwas besser oder etwas schlechter ausführt, die heute bereits von Einzelpersonen getan werden, sondern dass er die Dinge tut, die heute überhaupt nicht getan werden." John Maynard Keynes (2011/1926, Das Ende des Laissez-Faire, Berlin, S. 47)

Dieses Zitat eines der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jh. besagt nicht viel mehr oder weniger, als dass es wesentlich für die öffentlichen Hände ist, Dinge zu tun, auf den Weg zu bringen und Aufgaben wahrzunehmen, die sonst von niemand erledigt werden. Dazu gehören das Management und die Moderation von Aufbau und Pflege der Infrastrukturen zur Daseinsvorsorge und zur Entwicklung des Gemeinwohls. Als besonders wichtige, als sogenannte kritische Infrastrukturen werden dabei Anlagen, Systeme oder Teile derselben bezeichnet, die für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren Zerstörung oder Beschädigung erhebliche Auswirkungen hätte. Sie setzen sich zusammen aus technischen Basisinfrastrukturen und sozioökonomischen Infrastrukturen. Festgelegt ist dies in der "Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz", in der insgesamt acht Sektoren identifiziert sind. Dort findet sich zwischen Energieversorgung, Transport und Verkehr und der öffentlichen Verwaltung unter §5 der Sektor Informationstechnik und Telekommunikation.

Warum sind dieses Zitat und die Erläuterung kritischer Infrastrukturen hier genannt?

Seit nunmehr über einem Jahr zeigt uns die Pandemie wiederholt und nachdrücklich, dass die digitale Bildungsinfrastruktur rund um die Schulen unbedingt zu diesem kritischen Sektor zu rechnen ist, dass sie aber zu keiner Zeit in der Lage war, die durch die Lockdowns bedingten mehrfachen Ausfälle des Präsenzunterrichts an den Schulen in Deutschland adäquat abzufedern. Schon jetzt ist bezogen auf Schülerinnen und Schüler negativ von der "Generation Corona" und positiv von der "Generation Reset" die Rede.

Das Ausbleiben größerer Katastrophen ist allein dem Einsatz und dem Improvisationstalent vieler Lehrkräfte zu danken, die allzu oft Dinge taten, beziehungsweise tun mussten, Technisches oder Organisatorisches, die nicht zu ihren eigentlichen pädagogischen Aufgaben gehören.

Aber was genau macht diese kritische Infrastruktur aus, deren Management in die Verantwortung der Exekutiven von Kommunen, Ländern und Bund gehört? Und was sind ihre Bestandteile, was brauchen die Schulen und das Bildungssystem und wie sind die Verantwortungen verteilt?

Über diese Themen und Fragen lässt sich schlecht voraussetzungslos schreiben, berichten oder gar debattieren. Hier ist zunächst ein begrifflicher Hausputz und eine Kritik der Debattenkultur für die profunde politische Meinungsbildung von Bürgerinnen und Bürgern notwendig und hilfreich. Denn leider herrscht gerade im Feld von Schule und Digitalisierung ein Begriffswirrwar, der seinesgleichen sucht und von der Berichterstattung in den Medien bis hinein in pädagogisch-wissenschaftliche Fachpublikationen reicht. Das führt zu erheblichen Reibungsverlusten in den öffentlichen Diskussionen, weil oft nicht klar wird, worüber man eigentlich redet. Als Beleg seien hier stellvertretend für Vieles zwei Beispiele angeführt.

Joachim Paul

Dr. Joachim Paul ist Biophysiker und arbeitete in mehreren IT-Projekten, u.a. für die EU zu neuronalen Netzwerken und genetischen Algorithmen. In freier Autorenschaft publiziert er regelmäßig Artikel und Buchbeiträge zu Technikphilosophie, Politik und die digitale Revolution betreffenden Fragen. Er war Abgeordneter der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und von 2012 bis 2015 deren Vorsitzender. Als wissenschaftlicher Referent und Medienpädagoge im öffentlichen Dienst betreute er eine Plattform zur Bereitstellung von digitalen Bildungsmaterialien für Schulen. Heute befindet er sich im Ruhestand. Er betreibt einen eigenen Blog, einen Youtube-Kanal und ist auf Twitter/X als @Nick_Haflinger unterwegs.

So wird in einem Beitrag im Deutschlandfunk die Bildungsmediensuchmaschine MUNDO mit dem Lernmanagementsystem Itslearning verglichen und sogleich als schlecht bewertet. Äpfel sind aber nie besser oder schlechter als Birnen. Und im frisch erschienenen "Handbuch Lernen mit digitalen Medien" werden völlig verschiedene Dinge, nämlich "Moodle, Logineo, Mebis, Itslearning", in trauter Einigkeit als "Lernmanagementsysteme" bezeichnet. An anderer Stelle im selben Beitrag ist von "Mebis, eduPort, LOGINEO NRW, LernSax" als landeseigene "Cloudlösungen" die Rede.

Hier zeigt sich, insbesondere der IT-Fachbegriff "Cloud" und seine Dehnung bis hin zur Beliebigkeit haben es so richtig in sich, ein bunter Strauß der Mehrdeutigkeiten. Nicht ganz unvoreingenommene Beobachter:innen gewinnen den Eindruck, dass er in den Diskussionen um Schule und Digitalisierung als Klammer und Container hervorragend funktioniert. Denn seine "Wolkigkeit" garantiert, dass man dort Vieles hineintun kann, ohne konkreter werden zu müssen, so ganz im Sinne von: "Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose und die Bildung unserer Kinder kommt aus der Cloud". Entsprechend wolkig wird dann auch die Zuteilung der Verantwortungen verstanden. Die Cloud als Begriff fällt hier einem Missbrauch als selbsterfüllende Prophezeiung zum Opfer. Dabei ist dieser Begriff alles andere als beliebig. Denn er bezeichnet ein Konzept der mehrschichtigen Virtualisierung von Software-Dienstleistungen mit anhand von aktuellen Bedarfen skalierbar bereitstellbaren Ressourcen, etwas ungeheuer Konkretes und sehr Leistungsfähiges.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

Leider zündet ein Lieblingsprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF da noch eine weitere Nebelkerze, die HPI-Schulcloud des Hasso-Plattner-Instituts. Ihr Name soll werbewirksam den Eindruck vermitteln, dass es sich um echte Innovation und ein Hightech-Cloudsystem handelt. Weit gefehlt, denn das so Bezeichnete ist zunächst nur ein Stück Software, das bei GitHub heruntergeladen werden kann.

Angesichts dieser sprachlichen Um- und Zustände werden im Folgenden die notwendigen Begriffe mit Vorsicht – und unter Erhalt einer gewissen Flexibilität, aber mit gebotener Präzision - eingeführt anhand einer aus mehreren Perspektiven angedeuteten Bedarfsanalyse für das System Schule.

Um zu beschreiben, was Schulen wirklich brauchen und was eine Schule technisch gesehen ausmacht, ist es sinnvoll, erstens das System Schule und seinen Sinn als eine soziale Ganzheit, ein Netzwerk von Personen und Interaktionsprozessen zu betrachten, zweitens die Zeit vor der Pandemie zu berücksichtigen, um dann drittens im – nunmehr digitalen – Maschinenkeller des Systems Schule eine Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, was zum Betrieb des Systems Schule technisch erforderlich ist.

"Lernen ist Vorfreude auf sich selbst." Der Aphorismus von Peter Sloterdijk beschreibt das schöne Gefühl einer positiven Zukunftserwartung, die Vorfreude auf das, was ich noch nicht, aber vielleicht sehr bald kann und eine freudige Vorahnung von dem, was mir einmal möglich sein wird. Unsere Schulen sollten idealerweise die Orte sein, an denen diese Vorfreude in unseren Kindern zum Schwingen gebracht wird. Und weiter noch: Sie sollten – nimmt man das "Wir" hinzu – Labore für die Gesellschaft von morgen sein, in denen mit Lust und Erkenntnisgewinn gemeinsam experimentiert werden kann.