Missing Link: Die sind ja schon da! Betreutes Autonomes Fahren machts möglich

Das Autonome Fahren kommt sehr bald, aber anders als gedacht: Nicht als KI-Prothese des privaten PKW, sondern als neues Verkehrssystem für Güter und Personen.

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So stellt man sich bei ZF, einem der Entwickler Autonomen Fahrens, einen selbsttätig fahrenden Bus vor.

(Bild: ZF)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Die Weiterentwicklung des Automobils zum autonomen Fahrzeug kann gelingen – aber selbst nach heutigem Wissens- und Erprobungsstand nennt niemand mehr Termine. Aussichtsreicher ist der Weg über ein neu gedachtes Mobilitätskonzept. Wie bei der letzten großen Innovation im Mobilitätssektor vor rund 100 Jahren wurde ja auch nicht der Verbrennungsmotor in ein mechanisches Pferd eingebaut. Ebenso wenig war die ursprüngliche Kutschenkonstruktion den Anforderungen gewachsen, und die Straßeninfrastruktur genauso wenig.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die Vorstellung, vollständige Autopilot-Fähigkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der automobilen Welt, wie wir sie kennen, zu erreichen – empfinden viele Kritiker nur noch als schlechte Science Fiction (Siehe Teil 1).

Die drei Experten, die sich im ersten Teil auf die eine oder andere Weise im ersten Teil skeptisch zeigten, schlagen ganz andere Töne an, wenn es um autonomes Fahren auf Stufe 4 geht. Da es sich nicht nur um eine technisch definierte Autonomiestufe handelt, sondern um ein gänzlich neues Verkehrssystem, kann man es als "fahrerlosen Passagiertransport" oder "betreutes autonomes Fahren" präziser benennen.

Statt Stufenmodell: Ein neues Verkehrssystem

(Bild: Susann Massutte)

Der kalifornische Verkehrsexperte Daniel Sperling hält den fahrerlosen Betrieb von Taxis oder Shuttles für eine der Säulen der anstehenden Revolution im Verkehrssektor, von denen Elektrifizierung und "on Demand"-Modelle die beiden anderen sind. Der Leiter und Gründer des 3-Revolutions-Institute ist auch ganz nah dran an einer spannenden Entwicklung: Ein paar Dutzend Start-Ups, aber auch mächtige milliardenschwere Player versuchen dort, gleich ein neues Verkehrssystem rund um fahrerlosen Transport zu entwickeln.

Auch der Unfallforscher Brockmann ist weit weniger skeptisch, wenn es um Robotaxi-Verkehre, autonome Shuttles und insbesondere den Lieferverkehr geht. Der gelernte Kraftfahrzeugmechaniker hat aus sicherheitstechnischer Perspektive kein Problem etwa mit sogenannten people movern, die mit 20 km/h durch die Stadt fahren, etwa als Zubringer zum Nahverkehr.

Elon Musk geht seit Jahren mit der Ankündigung hausieren, Tesla-Kunden könnten demnächst mit ihren Autos Geld verdienen, indem sie diese – vorzugsweise im Selbstfahr-Modus – gegen Gebühr an andere verleihen. Jeder könne mit seinem Tesla zum selbständigen Flottenbetreiber werden – mit Flottengröße eins. Denn er sieht die Tage des Privatautos zu Ende gehen und damit die des Geschäftsmodells einer Industrie, dessen größter Innovator er derzeit selbst ist. 2019 versprach er, Tesla hätte bis 2020 eine Million Robotaxis "auf der Straße". Im Rückblick eine reichlich überoptimistische Prognose, allerdings mit einem wahren Kern: Er hat richtig erkannt, dass Privat-PKWs mit ausschließlicher Nutzung durch den Eigentümer, insbesondere wenn die Fahrzeuge von alleine fahren können, zunehmend als offensichtlicher ökonomischer und ökologischer Unsinn gesehen werden.

Die im Mai verabschiedete Gesetzesnovelle zum autonomen Fahren trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie rechtliche Rahmenbedingungen für den Betrieb autonomer Flotten schafft und sich auf diesen Anwendungsfall konzentriert. Das Ganze eingeschränkt auf "zulässigen Betriebsbereich" – das kann eine feste Linie nach Fahrplan sein, eine Strecke mit wenigen Variationen oder auch ein komplettes Gebiet, das mittels geofencing klar umrissen ist. Folgende Anwendungsfälle bzw. Einsatzszenarien zählt das Bundesministerium auf: Shuttle-Verkehre, people mover, Hub2Hub-Verkehre, nachfrageorientierte Angebote in Randzeiten sowie die Beförderung von Personen und/oder Gütern auf der ersten oder letzten Meile.

Auf Stufe 4 gibt es keinen Fahrer mehr, sondern eine "technische Aufsicht", die gewährleisten kann, dass die Entscheidungen des automatisierten Systems jederzeit nach einer gewissen Übergabezeit überprüft und überstimmt werden können. Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich vor, dies durch Fernüberwachung umzusetzen: Wenn es ein Problem gibt oder eine unvorhergesehene Situation auftaucht, sollen auch die fahrerlos agierenden Robo-Fahrzeuge selbständig einen "anderen risikominimalen Zustand" ansteuern, sprich: rechts ranfahren und anhalten und Kontakt mit der Zentrale aufnehmen. "Ein Mensch aus Fleisch und Blut in der Leitzentrale würde dann alarmiert. Er oder sie würde dem Robo-Auto ein Manöver diktieren, das dieses dann eigenständig ausführen würde", bilanziert Jens Tartler im Tagesspiegel. Entscheidend für die Sicherheit ist die Fähigkeit des Systems, immer in der Lage zu sein, in einen "risikoärmeren Zustand", wie ihn das deutsche Gesetz fordert, zu wechseln.

Die Übergabe an die Leitstelle, der take over request, kann also nicht bei 100 km/h in einer Nebelbank stattfinden. Typischerweise sind die Robotaxis eher übervorsichtig, so dass sie recht oft zum Stillstand kommen: Etwa wenn sie keine Lücke zum Einfädeln finden, auf eine Baustelle oder unbekannte Hindernisse treffen; oder wenn Verkehrssituationen auftreten, die nur mit einer begrenzten Regelüberschreitung zu lösen sind – zum Beispiel das Überholen eines liegengebliebenen Fahrzeugs. Das sind Situationen, in denen das System lieber mal nachfragt, etwa wenn auf einem McDonalds-Parkplatz plötzlich Weihnachtsbäume stehen, die vorher nicht da waren. Dann muss der Supervisor die Situation auflösen.

Das ist ähnlich wie beim Aufzug: Längst gibt es keine Liftboys mehr, die die Bewegung der Kabine steuern, auch kein passiv bleibendes Aufsichtspersonal, das im Notfall übernimmt. Der Fernüberwachung ist in diesem Fall durch einen einfachen Notrufknopf Genüge getan – so ähnlich auch bei einer fahrerlosen U-Bahn. Einen solchen gibt es auch in den Waymo-Fahrzeugen, den die Fahrgäste betätigen können.

Bedienknöpfe bei Waymo

(Bild: Jesse Rieser for Fast Company)

Bei der Anhörung zur Novelle waren sich die eingeladenen Expertinnen und Experten einig: Die regulierten Stufe-4-Verkehre ergeben nur als Teil einer öffentlichen Infrastruktur überhaupt Sinn, als Mobilitätssystem in der Hand von privaten oder öffentlichen Betreibern. Für den Individual-PKW sind die im Gesetz vorgesehenen Anforderungen – beispielsweise der Service einer zentralen Aufsicht – kaum umzusetzen wie wohl auch die Kosten für Services und Fahrzeuge selbst eher unattraktiv ausfallen.

Hier wird das Modell des fahrerlosen Verkehrs in begrenzten Situationen angegangen. Es gibt also keinen Fahrer mehr, der eingreifen müsste oder könnte, die Verantwortlichkeit verschiebt sich auf den Betreiber. Ein Systemwechsel findet statt, das problematische Übergeben der Steuerung, der Übergabe-Ping-Pong zwischen Fahrer und Maschine entfällt. Ähnlich wie bei einer fahrerlosen U-Bahn gibt es hier keinen Wechsel mehr zwischen menschlicher und automatischer Steuerung.

Es wird auch deshalb ein Schuh draus, weil es nicht um eine isolierte Errungenschaft geht, sondern um ein neues Verkehrssystem. Der Betrieb von Robotaxis – da ist das Fahrzeug nur noch "Mittel zum Zweck", meint auch Karsten Schulze, Geschäftsführer des Chemnitzer Unternehmens FD Tech. "Waymo und andere beschreiten bewusst einen neuen Weg, wollen bewusst neue Fahrzeugkonzepte auf die Straße bringen, die das Konzept Mobilität grundsätzlich neu denken. Das Integrationskonzept muss ein gesellschaftliches sein."

Waymo und Cruise liefern sich in Kalifornien ein spannendes Rennen, wer zuerst die nötigen Zulassungen für den kommerziellen Betrieb einsammeln und erstmalig Geld für unbemannte Taxi-Fahrten verlangen kann. Noch sind die Unternehmen über Testläufe nicht hinausgekommen, während die Autoindustrie mit ihren Assistenzsystemen zwar weit von Stufe 4 entfernt ist, dafür aber jeden Tag Geld verdient.

In Kalifornien sind regelmäßige Berichte an das kalifornische DMV (Department of Motorvehicles) über disengagement-Fälle verpflichtend, also Fälle, in denen ein automatisiertes Fahrzeug die Verantwortung abgibt. Unfälle indes kommen so gut wie gar nicht vor, Waymo meldete etwa einen alle 250.000 Kilometer, wobei es zu keinen ernsthaften Verletzungen kam. "Fast alle Ereignisse ... betrafen einen oder mehrere Verstöße gegen Straßenverkehrsregeln oder abweichendes Fahrverhalten durch den anderen Verkehrsteilnehmer", so der "Waymo Safety Report", den das Unternehmen im September 2020 veröffentlichte. Bei Waymo kann man nachlesen, dass es zwischen Anfang 2019 und Ende September 2020 zu 18 kleineren Unfällen kam, darunter 16 Auffahrunfällen. In drei Fällen wurde das Auto im Stand von Radfahrern oder Fußgängern angerempelt, in zwei Fällen wurde es von zurücksetzenden Autos gerammt.

Zwei Dutzend weitere Unternehmen folgten in der Zwischenzeit Waymos Beispiel und traten mit Sicherheitsberichten in Erscheinung, so die Amazon-Tochter ZooX und das von GM finanzierte Startup Cruise. Kritiker sehen in deren Reports jedoch nicht viel mehr als "PR-Hochglanzbroschüren", weil die Kriterien jeweils von den Unternehmen selbst bestimmt werden. Selbst kuriose Fälle wie kaputte Windschutzscheibe nach Golfball-Einschlag finden ihren Weg in die Sicherheitsaufzeichnungen.

Die israelische Firma Mobileye testet seit Jahren ihre Technologie in Robotaxi-Flotten in Tokio, Paris, Shanghai und Detroit. Das 2017 von der Intel Corporation übernommene Unternehmen mit Sitz in Jerusalem nimmt sich als nächstes New York City vor. Anlässlich des Testlaufstarts äußerte sich CEO Amnon Shashua zuversichtlich: "Wir können nicht garantieren, dass Sie niemals in einen Unfall verwickelt werden. Aber wir glauben, dass wir garantieren können, dass Sie nie einen Unfall verursachen werden.".

Beim "betreuten Autonomen Fahren", dem fahrerlosen Transport mit Fernüberwachung auf Stufe 4, geht es also in erster Linie um ein neues Verkehrssystem mit spezifischen Anwendungsfällen und weniger um die einzelnen Fahrzeuge und ihre Fähigkeiten.

Viele Hindernisse müssen aber noch aus dem Weg geräumt werden – nicht nur regulatorische, sondern ganz konkrete. Geschwindigkeitsreduktion würde vieles vereinfachen, aber vor allem ein konsequentes Vorgehen gegen Regelverletzungen: Selbst so banale Dinge wie falsch geparkte Autos stellen ein erhebliches Hindernis für den reibungslosen Betrieb von autonomen Shuttles dar.

Das betreute Autonome Fahren mit fahrerlosen Flotten passt aber grundsätzlich perfekt zur Mobilitätswende, zu weniger Autos, Kiezblocks (vom Durchgangsverkehr befreite Quartiere) und individueller Mobilität jenseits vom Privat-Pkw. Die Zeit ist reif für fahrerlose Systeme – reguliert, in festen Anwendungsfällen und -gebieten.

Klingt nach vielen Einschränkungen, doch die sind für die Praxis irrelevant. Sie bestellen sich normalerweise auch kein Taxi, um von Hamburg aus an den Gardasee zu fahren. Würden Sie aber auf dem Land wohnen, wo der Bus nur dreimal am Tag fährt, wären Sie sehr froh, ein günstiges Robo-Shuttle on demand als zusätzlichen Service nutzen zu können. Die Verkehrsforscher Weert Canzler und Andreas Knie sehen in dem "öffentlichen Auto auf Zuruf, dem 'Bestellauto', das automatisch dorthin fährt, wo es gebraucht wird", disruptives Potenzial und eine Mobilitätsform der Zukunft.

Toyotas Olympia-Transporter

(Bild: Toyota)

Vom Fahren zum Gefahrenwerden. Autonome Fahrzeuge, Personentransport und die Zukunft des Verkehrs

(Bild: jamesteohart/Shutterstock.com)

Autonomes Fahren, die Auswirkungen auf den Personentransport mit Robotaxis, people movern, autonomen Bussen und die notwendigen Techniken und Regularien beschäftigen uns in einer zehnteiligen Serie:

(fpi)