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Was war. Was wird.

Hal Faber öffnet die Büchse der Pandora - und findet neben Explorern auch neue Lebewesen, Babs Becker, Claudia Schiffer, die Quantenmechanik, Wobblies, Me-ti und das Lob der Einfachheit.

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

** In dieser Woche bin ich angestoßen worden und seitdem kreisel ich. "Anstöße für die journalistische Arbeit" nennt die Journalisten-Zeitschrift Insight eine Terminliste der wichtigsten vergangenen Ereignisse der Menschenwelt, die sie in ihren Ausgaben monatlich zusammenstellt. Da wäre etwa der 18. Dezember 1995. Nein, an diesem Tag wurde nicht der belohnenswerte Explorer einer berühmten Ratinger Firma angemeldet. Das war am 22. September. Am besagten 18. Dezember entdeckte die Menschheit eine neue Tierart und nannte sie Sybion Pandora. Wie die Viecher aussehen, kann ich leider nicht mitteilen, da sich das Web und auch diverse Lexika über die neue Tierart ausschweigen. Das unterscheidet diese Büchse der Pandora vom Explorer. Beim Namen der neuen Erdenbürger jedenfalls stelle ich mir ein Gewürm vor, das in eine Büchse passt. Aber so etwas kann schwer täuschen. Schon Pandorra ist etwas ganz anderes, nämlich ein Versicherungsangebot eines Startups namens Versicherungsladen.de für getrennt lebende oder geschiedene Frauen, das mit der verarmenden Barbara Becker wirbt. Für sie ist der Verlust der Schadensfreiheitsklasse bei der Autoversicherung wichtiger als der Verlust der AOL-Adresse, klärt uns das Pandorra-Marketing auf. Das sei gerade bei Frauen wichtig, die aus Ehen kommen, in denen nur ein gemeinsames Auto betrieben wird. Zu mehr scheint es bei Beckers nicht gereicht zu haben, also muss Babs in die Werbung. Wenigstens nicht auf die Litfaßsäulen, von denen uns weihnachtlich gestimmt eine gerenderte Palm-Stripperin anlächelt, deren Website bei regem Besucherandrang vor allem mit der Fehlermeldung "Too many Clients" glänzt.

*** Einer Büchse sieht man gemeinhin nicht an, was in ihr steckt. Sie ist eine Art trojanisches Pferd, nur kleiner. Mitunter schafft es das Pandora-Marketing, ganz eigene Glanzlichter zu setzen. Nehmen wir die Serie "Weisheiten von Office 2000", für die der eLearning-Spezialist virtual heaven in der letzten Woche ein "Vertiefungsmodul Virenschutz" vorstellte. Interaktiv, wie es heute sein muss, begleiten wir bei den Office-Weisheiten einen Herrn Boehm nach China an die Chinesische Mauer, wo er vom Zoll-Beamten Mi Tse-Ting über Viren und trojanische Büchsen aufgeklärt wird. In der ersten Fassung des "Story Based-Training" hieß der Herr noch Mao Tse-Tung, was wohl zu viel der Subversion war.

*** Halten wir uns also statt an Mi Tes-Ting oder Mao Tse-Tung vielleicht besser an Me-ti. Dem chinesischen Weisen, der außer in Bertolt Brechts Phantasie nie gelebt hat, hätte ein Lob der Einfachheit sicher gefallen. Danach steht den meisten heutzutage nicht mehr der Sinn: Wir leben in komplizierten Zeiten; ohne Internet-Führerschein ist es nicht erlaubt, eine Glühbirne auszuwechseln, ohne ausgewiesene Dot.Com-Pleite gibt es kein Steuersparmodell. Geschweige denn darf man sich in Heises Newsticker herumtreiben, ohne IP-Subnetze im Kopf berechnen zu können – des gar erschröcklichen DAU-Tums beschuldigt zu werden, dafür reicht schon eine AOL-Mailadresse. Das Geheimwissen alchimistischer Clubs feiert fröhliche Urständ – komisch nur, dass die Mitglieder der Clubs langsam an Altersschwäche sterben, während AOL stolz 26 Millionen Mitglieder vermeldet. Wahrscheinlich gehen unsere modernen Alchimisten auch auf die Maus mit Rattengift los. Daher sei erinnert an eine Erläuterung des Internet, die ihresgleichen sucht. Das Einfache ist eben immer kompliziert, wenn es das Komplizierte einfach erklären soll. Oder es ist ist den Leuten schlicht scheißegal, wie mein Lieblingskritiker Joseph Weizenbaum meint: In 10 Jahren werden der Computer und das Netz so alltäglich sein wie der Elektromotor – und genau so spannend. Netter Kommentar zum Thema "Wieviel Computer braucht der Mensch?".

*** Diese Fragen stellen sich jedoch inzwischen nicht nur Skeptiker wie der gute alte Joe. Kein Mensch will mehr neue Computer kaufen – und die ganze Branche taumelt in die Krise. Ob man sich deswegen aber gleich aus dem Flieger stürzen muss? Eine 29-jährige Hewlett-Packard-Angestellte fiel am Mittwoch während des Flugs zwischen ihren verschiedenen Wirkungsstätten jedenfalls aus einem Firmen-Jet. Nun rätselt alle Welt, was passiert ist. Vielleicht nehmen manche Leute einfach die Weihnachtsflaute zu ernst. Andererseits: Möglicherweise entdeckt die amerikanische New Economy ja auch gerade neue Methoden, überschüssiges Personal loszuwerden. Dann muss man sich wenigstens nicht mit diesen blöden Gewerkschaften herumschlagen, die gerade die eigentliche Revolution der Dot.Coms ausrufen. Sage keiner, ich übertreibe – was AFL-CIO, Mafia und Old Economy in früheren Tagen gemeinsam angestellt haben, sollte doch der New Economy ein Leichtes sein. Womit wir wieder bei der schon einmal erwähnten, recht wechselhaften Geschichte der so unamerikanischen Wobblies wären. Gegen subversive Unterwanderer hatten amerikanische Unternehmen schon immer so ihre eigenen Methoden.

*** Unterwanderer aber können nicht nur in den USA so fürchterlich heimtückisch sein, und das auch noch in Büchsen wie in Büchern. Was ist, wenn unseren Kindern nicht das verkaufsfreie kleine rote Buch, sondern "Mein erstes Shopping-Buch" in die Hände fällt, noch dazu mitten im heißen W-Kommerz? Dann aber husch zur Polizei! Besagter Shopping-Guide, von den Autoren als "Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Konsummechanismus" konzipiert, wurde dieser Tage auf den Index für jugendgefährdende Schriften gesetzt, zusammen mit neonazistischen und pornografischen Titeln. Die Autoren erklären im Buch, wie sich Kinder im Web und im realen Leben vor Shopping-Neppereien schützen können, was die Prüfstelle als "sozialethisch desorientierend" wertete. Besagte Prüfstelle soll nach der Reform des Jugendschutzes auch dafür zuständig sein, dass das dreckige Web erst nach 23.00 Uhr eingeschaltet wird und morgens wieder sauber ist.

*** Was sauber und was dreckig ist, darüber haben nicht nur staatlich bestallte Jugendschützer und manche Unterwanderer unterschiedliche Ansichten. Web-Designer und Surfer können sich grundsätzlich nicht darüber einigen, was eine gute Website ausmacht. In der Regel bekommen aber die Macher ihren Willen und produzieren HTMülL: "Best Viewed" mit... Nun, natürlich mit exakt der Soft- und Hardware, die der Desginer benutzte, als er seine kranken Allmachtsphantasien auf der Webseite auslebte. Was für seltsame Ansprüche die Surfer, die in das Lob der Einfachheit einstimmen, aber auch haben: Ein Otto-Katalog im Web ohne JavaScript, Adobes Online-Shop ohne Cookies? Sehr witzig – und wie ein zu Recht weitgehend vergessener deutscher Humorist einmal anmerkte, Witzischkeit kennt kaane Gränze. Ohne Java online banken? Einfacher ist es, sich ohne Hände am Arsch zu kratzen. Zu dieser recht seltenen Fähigkeit verhilft nun aber mit deutscher Gründlichkeit die DQS in Zusammenarbeit mit dem DIN CERTCO. Seit einigen Tagen spendieren sie E-Commerce-Sites ein neues Bapperl: DIN Tested Website, zertifiziert nach ISO/IEC 12199. Schickes Logo, schwammig Kriterien: Erste DIN-zertifizierte Website war die ALLAGO AG, ein Online-Bürobedarfshandel der Dresdner Bank — mit Cookies und JavaScript.

*** Vielleicht qualifiziert der DIN-Bempel ja auch zu höheren Weihen in den inneren Kreisen der Bobos. In Berlin tagten sie jedenfalls und wählten den Bremsklotz des Jahres. Bremsklötze werden bei Lastwagen benötigt, wenn die Luft im Bremssystem raus ist. So schaute es wohl bei den versammelten Dotkömmern aus, die ihren Sündenbock wählten. Allderweil ist die Dezemberausgabe der Artbyte erschienen, in der uns Bruce Sterling in der Sektion "Kulturkampf" über die Bobos aufklärt. Sterling liebt die Bobos als Zeitphänomen, das die Beatniks, Hippies und Yuppies beerbt, er hasst aber den Bobo-Analytiker David Brooks, den er als Erbe von Ernst Jünger ungespitzt in die Erde rammen möchte. Nun ist der Kulturkampf eine altehrwürdige Sache, nicht nur die Wobblies, auch Bebel und Genossen betrieben ihn mit Eifer. Als erstes Massenkommunikationsmittel wurde Jahrzehnte nach Bebel das Radio ins Visier genommen, etwa so: "Vergiss an keinem Tag, Prolet, dass hinter deinem Web-Gerät der Gegner deiner Klasse steht". Ersetzt man die etwas ältlich klingenden deutschen Begriffe "Gegner deiner Klasse" und "Prolet" durch die amerikanischen Dot.Coms und Environmentalists, so lebt dieser Satz aus den 20ern wieder auf. Er wird bei US-Umweltschützern benutzt: Die Firma Cisco baut im Silicon Valley ein neues Gebäude, um all die günstig aufgekauften Dot.Coms zu integrieren. In einem der letzten kalifornischen Vogelschutzgebiete werden dafür 22.000 Parkplätze "installiert". Die richterlich angeordnete Ausgleichzahlung sind 3 Millionen US-Dollar. Das ist ein Bruchteil der Summe, die Cisco für seine neuesten Errungenschaften zahlt.

*** "Ich habe all das mit so viel Liebe, mehr noch, mit Aufregung und grenzenloser Hingabe gemacht, wie ich es in der Nacht vor 42 Jahren gemacht habe, als ich das erste Mal Liebe machte." So beschrieb Ted Turner von Time Warner und vormals CNN die Arbeit am Deal mit AOL in dieser Woche. Jane Fonda saß damals noch vor der Büchse der Pandora.

Was wird.

Die Quantenmechanik wird hundert Jahre alt – oder wurde, wenn man den Vortrag Max Plancks am 14. Dezember 1900 vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft als Startdatum nimmt. Aber so ist das nun mal mit der modernen Physik: Ort und Zeit gleichzeitig, das ist so eine Sache. Ansonsten wird nichts. All die Firmen, die mit W-Commerce und "Aktie Rot" die Kurve kriegen wollen, werden es auch vor Weihnachten nicht schaffen zu fliegen. Just in Time fallen nur die Nadeln von den Bäumen ab. Auch eine Art quantenmechanisches Phänomen: Selbst wenn Einstein unwahrscheinlicherweise recht behielte und Gott doch nicht würfelte – die Götter des E-Commerce tun es auf jeden Fall. Die Dot.coms als Schrödingers Katze: tot und lebendig gleichzeitig. Nur wenn man scharf hinguckt, dann fallen sie – berechenbar – tot um. Das wird schon. (Hal Faber) / (jk)