Honda Deauville: Die preiswerte Prostituierte

Hondas kleines Tourenkrad Deauville war nie ein Verkaufsschlager, aber verdient fast das Prädikat "Geheimtipp". Sie macht alles gut, sie macht vor allem Freude.

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Honda Deauville

(Bild: Rainer Schramm)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Manchmal spült das Wellenspiel der Algorithmen mir merkwürdige Videos aus der Tiefsee in die Timeline, auf denen das Heilige Spaghettimonster (Bathyphysa conifer) oder ein besonders Lovecraft-iger Vampirtintenfisch (Vampyroteuthis infernalis) von der am Bohrgestell montierten Kamera weg wieder langsam in die Dunkelheit wabert. Erstaunlich, welche Nischen der "Blinde Uhrmacher" Evolution alles besetzt, und auf welche Art, denke ich mir dann immer. Dasselbe dachte ich auch, als ich das erste Mal eine Honda Deauville fuhr. Ein Design-blinder Ingenieur bei Honda besetzte damit eine sehr spezielle Motorrad-Marktnische, in der sie selbst heute als Gebrauchte kaum Konkurrenz fürchten muss.

Das Grundpaket der NT 650 V "Deauville" (benannt nach dem Badeort) enthielt alles, was Alltags- oder Tourenfahrer sich wünschen könnten: unzerstörbarer Drehmomentmotor, pflegeleichter Kardanantrieb, höchst integriertes Koffersystem, Hauptständer, bester Wetterschutz, erstaunlich gute Fahreigenschaften, tauschbare Sturzpads und ein Preis, zu dem man anderswo kaum einen dieser Punkte zum Serienpreis erhielt. Die Deauville sollte schlicht alles können. Das hatte einen Preis, den nur wenige zahlen wollten.

Drucksen wir nicht herum: Die Deauville sah aus wie ein dreimal verdautes und ausgeschiedenes Stück Barbieseife. Selbst ihre innigsten Freunde behaupten nicht, dass die Deauville und das Adjektiv "schön" jemals ohne ein "überhaupt gar nicht" kombiniert werden sollten. Deshalb bringen Deauville-Fans praktisch immer ein stabiles Selbstbewusstsein mit. In diese Gestaltung spielten mehrere Faktoren hinein. Zunächst einmal muss jedes erfolgreiche Tourenmotorrad eine gewisse Grundhässlichkeit mitbringen. Warum das so ist, weiß die Motorradforschung noch nicht, doch dass es so ist, lässt sich anhand der Datenlage schwer bestreiten. Dann kommt der Wetterschutz dazu. Den augenschonend hinzukriegen, das kann schon einmal nicht jeder.

Eine NT 650 V im selteneren Gold, in sehr üblicher Ausstattung: hohe Scheibe und Topcase waren usus.

(Bild: Rainer Schramm)

Und zum Schluss das Koffersystem. Hondas integrierte Heck-Koffersysteme waren funktional super: schmal, und doch mit viel Volumen. Aber die Hecks sahen dann eben immer aus ... Ich könnte jetzt einen Vergleich bemühen mit aufgespritzten Finstergramm-Popos im Rentenalter, doch der Deauville-Hintern sah einfach aus wie ein Großroller-Heck, und eine schlimmere Beleidigung gibt es nicht für ein Motorrad. Jeder Motorradschreiber wusste nach dem ersten entsprechenden Foto, dass bei der 700er ein Baguette quer durch die Durchreiche passt, und tatsächlich erfreute sich das Motorrad in Frankreich bei Motorrad-Kurieren einiger Beliebtheit. Das lag aber nicht an der Durchreiche, sondern an ihrem unschlagbaren Alltagsnutzen.

Früher war es für einen heute kaum noch vorstellbaren Anteil von Motorradfahrern recht üblich, im Sommer nur Motorrad zu fahren und im Winter ein altes Auto gebraucht zu kaufen, die wenig geliebte "Winterhure". Doch auch den-Winter-durch-Motorradfahrer hatten häufig Bauchschmerzen damit, ihr geliebtes Krad jeden Tag durch Salz und Siff zu fahren. Ich weiß das, denn ich tat das einer Aprilia RSV Mille an. Kein anderes italienisches Superbike hätte das mitgemacht, doch tragisch war es trotzdem. Deshalb besitzen einige Ganzjahresfahrer spezielle Winter-Zweitmotorräder, meistens so etwas wie eine alte BMW K 100. Die wird langsam teuer. Wir blicken uns um und sehen, wie perfekt die Deauville sie als Winterkrad ablöst.