Mercedes-Benz EQS im Test: Das leiseste Elektroauto der Welt

Seite 2: Selber fahren lassen

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Mercedes wird im EQS den Drive Pilot nach SAE Level 3 anbieten, wie er schon für die S-Klasse vorgestellt wurde, also mit kompletter Übergabe ans Fahrzeug auf freigeschalteten Strecken (erst einmal in Deutschland) bis 60 km/h, also vor allem bei zähem Verkehr und Stau. Das S-Klasse-System soll nach den Verzögerungen des Krisenjahrs Ende 2021 zugelassen sein, die Variante im EQS folgt 2022. Gar nicht mehr selber Stau fahren und ein Buch lesen klingt für mich nach der bestmöglichen Option für diese fahrende Schallschutzkabine. Musik hören gefällt genauso. Die Burmester-Anlage klingt bei entsprechend gutem Material, als schreie einen Freddy Mercury von direkt über dem Lenkrad an.

Das klingt jetzt alles nach "gefahren werden", weil Komfort in der Tat das Hauptthema dieses Autos ist. Wie die S-Klasse werden die meisten Kunden jedoch selber fahren, und der EQS fährt sehr schön. Man kann keine Fahrhilfen abschalten, doch man kann auf Sport schalten und sich in der Allradversion (EQS 580) viel krasser aus den Ecken ziehen lassen, als man es anhand der Leichtlaufreifen glauben würde. Dank Hinterachslenkung machen sogar enge Kehren Spaß, das Heck zieht nämlich nicht in den Scheitelpunkt hinein, sondern lenkt gegen, um den Gesamtradius zu verkleinern. Oder noch prägnanter: Wendekreis 10,9 Meter bei einer Fahrzeuglänge von 5,21 Metern. Das entspricht dem 4,28 Meter langen VW Golf 8.

Im überraschend wendigen Auto sitzt der Fahrer weit vorne und schaut durch das große Fenster auf keine Autoteile, sondern nur Umwelt. Die Front lenkt vorhersehbar, das Heck hält automagisch trotz langen Radstands den breiten Hintern auf Spur, es macht Spaß, dieses Auto zu fahren, und es fährt auf seine ganz eigene Art interessant. Das einzige Manko beim Fahren: Die große linke A-Säule steht in Linkskurven genau dort, wo die Blickführung hingeht. Manchmal kann man durch die weit nach vorn gespannte Seitenverglasung in die Kehre gucken. Letztendlich ist das fast egal, denn noch einmal ehrlich: Kein Käufer wird dieses Auto so fahren wie wir Pressedeppen über den Pass. Wer so etwas will, kauft einen Porsche (dort mit abschaltbaren Fahrhilfen).

Weil das so ist, hier mein ganz unverbindlicher Geheimtipp: Der bessere EQS ist der mit reinem Heckantrieb (EQS 450+). Zwar bleibt der Wendekreis gleich, doch er ist noch leiser, weil der dem Fahrer nähere vordere Antrieb wegfällt. In der Stille des EQS fiel mir von der Vorderachse nämlich auf, dass bei 60 km/h und Vielfachen von 60 ein resonantes GERÄUSCH in die Kabine schlüpft, und wenn die Lüftung herunterfährt, fällt das schon fast auf. Beim Heckantrieb nichts davon. 245 kW Boost-Leistung reichen für kräftige Beschleunigung, die Endgeschwindigkeit von 210 km/h bleibt gleich, und aufgrund etwas geringeren Gewichts und geringerer Fahrwiderstände fährt die Heckantriebs-Variante obendrein weiter und günstiger.

Mercedes-Benz EQS innen (12 Bilder)

Raumschiff!
(Bild: Daimler)

Klar: Diese riesige Glasscheibe mit Bildschirmen darunter, das macht was her. Hinter dem Hyperscreen sitzt man wie in einem Raumschiff, und gut zu reinigen ist er obendrein. Ich erwartete, dass die Standardoption wie so oft bei Premiumherstellern im Vergleich so mager ist, dass sie den Nichtkäufer der teuren Option bei jeder Fahrt schmerzhaft an seine Fehlentscheidung erinnert. Aber im EQS sitzt standardmäßig statt dem Hyperscreen das MBUX-Setup der S-Klasse. Das kann ich jetzt nicht soo schlimm finden.

Die leistungsfähige Hardware ist identisch zu der unter der großen Glasscheibe. Die Oberfläche mit den praktischen Overlays ("Zero Layer", siehe Bildstrecke) funktioniert praktisch gleich. Es fehlt außer dem "Whoa!"-Effekt nur der Beifahrerbildschirm, und ganz ehrlich: Was kostet ein iPad? Das kann alles besser als ein Infotainment-Bildschirm, der Automotive-Anforderungen entsprechen muss. So etwas könnte gerade für Fuhrpark-Verwalter interessant sein, denn mager ausgestattet ist das Auto selbst in der Grundausstattung nicht.

Der EQS bleibt mir in Erinnerung als das Auto mit der größten Schere zwischen äußerer Unauffälligkeit und inneren Werten. Wie leise und sparsam dieses Auto fährt, beeindruckt. Es gibt einen dynamischen Ladeplaner (der anders als in EQA oder EQV auch vernünftig funktioniert), er lädt mit bis zu 200 kW (400 V x 500 A) über eine pralle Ladekurve, er rekuperiert mit bis zu 290 kW, vor allem aber trägt die 107-kWh-Batterie in Verbindung mit dem geringen Verbrauch so weit, dass meistens die Insassen eine Pause wollen, bevor das Auto zur Ladestation muss. Bei üblichen Etappen von 2 bis 3 Stunden zwischen Stopps (messen Sie einmal mit Ihrer Familie, Ihrer Frau, allein) ist es praktisch egal, wie man das Auto fährt. Es reicht immer. Wer wirklich noch mehr Motivation für elektrische Fernfahrten braucht: Mercedes bezahlt EQS-Kunden im ersten Jahr alle Ionity-Ladekosten. Hallo, Gibraltar!

(cgl)