E-Rezept: Nach 20 Jahren ist es da

Eigentlich sollte Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens mit dem E-Rezept auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) Vorreiter werden.

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Von
  • Detlef Borchers
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Mit dem Entschluss der Gesellschafter der Gematik, dass elektronische Rezepte nun auch mit der Gesundheitskarte eingelöst werden können, kehrt die Technik wieder zu ihren Anfängen zurück. Vor 20 Jahren begannen die ersten Pilotprojekte mit einer Chipkarte, die das Einlösen von Rezepten und die Ausgabe von Arzneimitteln sicherer machen sollte. Legendär wurde der Satz der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: "Wir werden mit der Karte etwas nach vorne bringen, von dem andere Länder noch etwas lernen können." Andere Länder lernten, wie man es nicht macht.

Am 22. Juli 2022 hat die Gesellschafterversammlung der Gematik erneut beschlossen, dass elektronische Rezepte mit der elektronischen Gesundheitskarte eingelöst werden können. Damit schließt sich ein Kreis: Vor 20 Jahren, am 21. August 2002 startete das Pilotprojekt der Gesundheitskarte Schleswig-Holstein, gefolgt von einem zweiten Piloten, der Gesundheitskarte Düren. In beiden Fällen war Gesundheitsministerin Ulla Schmidt anwesend, die seit ihrer Amtseinführung kräftig Werbung für einen elektronischen Gesundheitspass machte. Deutschland sollte mit diesem Gesundheitspass eine internationale Vorreiterrolle einnehmen, von der andere Länder lernen können.

Das Gesundheitsministerium wollte seinerzeit Konsequenzen aus dem sogenannten Lipobay-Skandal ziehen und mit dem Gesundheitspass die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) verbessern. Eine Chipkarte sollte helfen, eine Historie aller Arzneimittel anzulegen, die ein Patient einnimmt. Nach und nach sollte so eine gesicherte Arzneimittelhistorie für jeden Kranken auf dem Server entstehen, schrieb die Deutsche Apothekerzeitung zum Dürener Projekt.

Selbstbewusst verkündete Vorreiter Deutschland, dass der elektronische Gesundheitspass im Jahr 2006 kommen werde. Kostengünstig sollte er mit einer Milliarde Euro auch noch sein, da bis zu 5 Milliarden jährlich eingespart werden könnten. Das war freilich in DM gerechnet und stand in einem 1998 veröffentlichten Gutachten "Telematik im Gesundheitswesen" der Beratungsgesellschaft Roland Berger.

Wenig verwunderlich, dass sich beim selbst erklärten "größten deutschen IT-Projekt" prompt die IT-Branche mit der Bereitschaft meldete, das Gesundheitssystem zu melken. Allerdings meldeten sich auch die Ärzte und Zahnärzte zu Worte und pochten auf den Schutz der Patientendaten, womit eine bis heute andauernde Debatte über den Datenschutz und die Anonymisierung oder Pseudonymisierung von Krankheitsdaten begann. Doch den Lauf der IT-Entwicklung dieser Telematik sollte das nicht aufhalten.

Mit dem 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurde beschlossen, dass die elektronische Gesundheitskarte 2006 eingeführt wird, in ersten Pilotprojekten sogar bereits im Jahr 2005. Auf der CeBIT 2004 präsentierte Ministerin Ulla Schmidt eine große Pappscheibe, symbolisch für die Dokumente der "Rahmenarchitektur", die das Industrie-Konsortium biT4health auf einer CD-ROM zusammengetragen hatte. Nun wurden die Kosten auf eine Milliarde geschätzt, eine Summe, die sich spätestens nach zwei Jahren amortisieren werde, erklärte die Ministerin.

Dennoch begannen Diskussionen darüber, wer die Gesundheitskarte finanziert. Es gab eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie die Technik in den Arztpraxen und Apotheken finanziert werden könnte. Dass nicht alles rund läuft und sich die Einführung der Karte und der Telematik erheblich verzögern könne, kam auf einem ersten Krisengipfel im Gesundheitsministerium im Herbst 2004 zur Sprache. Auf ihm wurden Alternativen zur Karte, etwa eine Mini-CD-ROM, diskutiert. Wieder war es Ministerin Schmidt, die beruhigte und erklärte, dass die Gesundheitskarte wirklich pünktlich kommt.

Unterdessen drohten die an der "Rahmenarchitektur" und an der "Lösungsarchitektur" arbeitenden Fraunhofer-Institute mit einem Ausstieg aus dem Projekt. Ulla Schmidt erhielt eine zweifelhafte Anerkennung für ihr Herzensprojekt, nämlich einen Big Brother Award in der Kategorie Gesundheit und Soziales. Da tat es weniger weh, als ein Zeitungsbericht erschien, in dem die Kosten des Projektes von 1 Milliarde auf 3,4 Milliarden Euro hochgerechnet wurden.

Immerhin: Auf der Medica 2004, eine Messe für Medizintechnik, wurde erstmals eine weitere Neuigkeit vorgestellt, das elektronische Rezept. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und das Fraunhofer-Institut für biomedizinische Technik zeigten, wie mit D2D/PaDok ein solches Rezept ausgestellt werden kann. Zur angemahnten Einstellung der Zwistigkeiten wurde die Schaffung eines Gremiums diskutiert, das alle offenen Fragen klärte. So entstand im Januar 2005 die Betriebs- und Projektgesellschaft Gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte gGmbH, an der 15 Organisationen beteiligt waren.

Flugs wurde verkündet, dass die Feldtests der Karte und die Prüfung der Datensicherheit des Gesamtsystems mit jeweils 10.000 Teilnehmern in verschiedenen Regionen im Dezember 2005 beginnen werden. Das war nötig, denn zwischen den Jahren tagte wie üblich der Chaos Computer Club. Auf dem 21. Chaos Congress referierte der Informatiker Thomas Maus über das erwähnte D2D/PaDok-System. Seiner Ansicht nach zeigten sich riesige Datenschutzlücken und Fehler in der Sicherheit des Gesamtsystems. Gegen den Vortrag gingen die Fraunhofer-Institute juristisch vor. Auch die Ärzteverbände reagierten und verlangten bessere Sicherheitsmaßnahmen. Dafür müsse die Karte halt warten und erst im Jahr 2007 ausgegeben werden.

Auf der CeBIT 2005 konnte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ihre zweite symbolische Scheibe abholen, die die 1000 Seiten Spezifikationen der Lösungsarchitektur versinnbildlichen. Sie gab sich ungebrochen optimistisch und verkündete vor versammelter Presse: "Wir werden mit der Karte etwas nach vorne bringen, von dem andere Länder noch etwas lernen können." Danach wurde es etwas ruhiger um die Karte und die Telematik, die in sogenannten (überschaubaren) Modellregionen getestet wurden. Zum Start des Jahres 2006 wurde offiziell verkündet, dass alle Modellregionen nunmehr Testregionen sind, in denen 10.000 Teilnehmer das System auf Herz und Nieren prüfen. Auch das sollte beruhigen, denn auf dem Jahresendkongress des Chaos Computer Clubs hatte Thomas Maus eine Schippe nachgelegt und die "Sümpfe der Traurigkeit" beschrieben.

Im Jahre 2007 gelang schließlich das, was heute tausendfach in Arztpraxen praktiziert wird, die Aktualisierung der Stammdaten der Versicherten, natürlich in Anwesenheit der Gesundheitsministerin. Ulla Schmidt brachte Schwung in das erlahmende Interesse an der Telematik, der Gesundheitskarte und dem elektronischen Rezept, als sie zum Jahresende die Einführung eines Organspendenfaches auf der Karte ins Gespräch brachte. Umso schlechter fielen die Nachrichten im Jahr 2008 aus, als die ersten Berichte aus den Testregionen eintrafen und öffentlich diskutiert wurden.

So wurde in Schleswig-Holstein der Testbetrieb eingestellt: "In dieser Release-Phase, in der die neue Karte offline getestet wurde, erlebten die Beteiligten nach Auskunft des Projektleiters Jan Meincke einige Überraschungen. Alle Arztausweise mussten ersetzt werden, weil sie mit falschen Zertifikatsattributen geliefert wurden. Mitten im Test versagten 2000 Gesundheitskarten, weil ihre Zertifikate im Januar 2008 ungültig wurden."

Im Jahr 2009 verlor die Sozialdemokratin Ulla Schmidt in der Bundestagswahl ihren Wahlkreis an den Arzt Rudolf Henke (CDU). Das nahmen die Kritiker der Freien Ärzteschaft zum Anlass, ein Umdenken zu fordern: "Insbesondere bei dem Thema "elektronische Gesundheitskarte" sehen wir den Regierungspartner FDP in der absoluten Pflicht, ihre in der Vergangenheit mehrfach dokumentierte Ablehnung dieses gigantischen Daten-Monstrums jetzt in praktische Regierungspolitik umzusetzen."

Doch den nachfolgenden Gesundheitsministern der FDP, Philipp Rösler und Daniel Bahr gelang es nicht, das Projekt zu reformieren, auch der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) blieb relativ wirkungslos. Immerhin gelang es ihm, mit dem E-Health-Gesetz Druck auf die Akteure rund um Gesundheitskarte, E-Rezept und der "Königsdisziplin Patientenakte", wie Gröhe sie bezeichnete, aufzubauen. Erst Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sorgte für einen Wandel, als sich sein Ministerium über eine Eigenverordnung die Mehrheit an der Gematik sicherte und so eigene Beschlüsse durchdrücken konnte. Sein Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) wurde früher als Einflüsterer von Ulla Schmidt beschrieben. Seine Karriere begann mit einer Studie über Lipobay.

Zwölf Jahre später schließt sich gewissermaßen ein Kreis, denn Meinckes Firma Medisoftware hatte eine Funktion entwickelt, bei der der 2D-Token zum Einlösen des E-Rezepts mit unverschlüsselter E-Mail aus dem Praxisverwaltungssystem übertragen wurde. Sie wurde von Datenschützern bemängelt, woraufhin die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein beschloss, sich vorerst nicht mehr aktiv am als Testregion für das E-Rezept zu beteiligen. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Lippe will nicht mehr "an Bord bleiben", sofern das E-Rezept nicht mithilfe der eGK eingelöst werden kann. In der letzten Gesellschafterversammlung der Gematik wurde daher beschlossen, das Einlösen des E-Rezepts auf der eGK früher als geplant umzusetzen. Die Spezifikationen dafür hat die Gematik für Anfang September versprochen.

(mack)