Hoch automatisiert: Ausfahrt in der teilautonomen Mercedes S-Klasse mit PHEV

Seite 2: Aufgebohrte Assistenz

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Während das beschriebene Level-3-System zusätzliche Sensorik voraussetzt, verwenden die Serien-Sicherheitssysteme der S-Klasse nur die vorhandenen Radar- und Kamerasysteme. Selbst bei Buchung des Staupiloten gehen dessen Daten nicht in die Situationsbewertung des Systems ein, denn das ist optimiert auf die anderen Sensoren. Lassen Sie sich von diesem Umstand nicht täuschen, die Assistenten arbeiten auf einem hohen Niveau und sehen sehr viel vom Verkehrsgeschehen. Nur ein Beispiel: Der vordere Radar schaut unter dem vorausfahrenden Fahrzeug hindurch, um Hindernisse vor diesem zu erkennen, die die Kamera nicht sieht.

Wie schon seit einigen Jahren bekannt, bremst die S-Klasse bei einem ansonsten unvermeidbaren Unfall automatisch voll, selbst wenn der Fahrer auf dem Gaspedal steht. Die Margen dabei sind klein. Man kann gefühlt äußerst knapp an einem Unfall vorbeiwursteln, ohne das System kennenzulernen. Dann piept es zwar warnend, aber es erfolgt kein Eingriff. Selbst in Situationen, in denen jeder wache Mensch längst gebremst hätte, rauscht die Automatik ohne jeden Eingriff durch, wenn das Objekt nur knapp verfehlt wird. Das ist eine Abwägung zwischen Sicherheit und falsch positivem Nerven und klappt in der Praxis sehr gut.

Sicherheitssysteme (6 Bilder)

Neu hinzugekommen: Ein Ausweich-Assistent, der Überbewegungen am Lenkrad ausgleicht, um das Auto in einem beherrschbaren Fahrzustand zu halten.
(Bild: Daimler)

Neu hinzugekommen ist ein Ausweich-Assistent. Bei schreckhaften Ausweich-Aktionen geraten Fahrzeuge immer wieder ins Schleudern. Die erschreckten Lenkimpulse sind dabei oft so stark, dass selbst das ESP eine Drehung nicht mehr verhindern kann. Hier bringt der Assistent über den Lenkservo ein passendes Gegendrehmoment zur Lenkbewegung auf, um das Auto in einem beherrschbaren Fahrzustand zu halten – und zwar sowohl beim Ausscheren als auch beim Wiedereinscheren, bei dem es unassistiert am häufigsten zu Drehungen kommt.

Außerdem neu: verbesserte Überwachung der Seitenbereiche, für Fußgänger und Fahrradfahrer. Das Auto bremst zum Beispiel automatisch, wenn der Lenker einem Fahrradfahrer im toten Winkel den Weg abschneidet. Wir kennen das System auch aus dem Mercedes-Benz Actros. Zebrastreifen mit wartenden Personen markiert ein Warnpiepser. Der Fahrer kann hier trotzdem drüberbraten, denn es gibt ja zum Beispiel Situationen, in denen Fußgänger das Auto durchwinken (wir erinnern uns an die autonome Bertha-Benz-Fahrt).

Displays, überall Displays! Das neue MBUX bringt die bekannten Qualitäten auch auf die Rückbank.

(Bild: Daimler)

Die zweite große neue Sache, die Mercedes' S-Klasse einführt, ist das Update des Infotainment-Systems "MBUX". Obwohl das in der A-Klasse zuerst vorgestellte System immer noch das wohl beste am Markt ist, legten die Ingenieure hier noch einmal kräftig nach. Die Hauptrecheneinheit mit Topend-SoC, 16 GByte RAM und 320 GByte Flash-Speicher lässt wenige Wünsche offen und vor allem viel Luft nach oben für spätere Software-Updates.

In Fahrt fällt vor allem auf, wie viel Arbeit in der Systemintegration steckt. Die Fahrassistenz markiert vorausfahrende Autos mit einem leuchtenden Unterstrich auf dem großen Headup-Display oder zeigt dort Spurwechselpfeile an. Auf dem Dashboard gibt es eine Assistenz-Ansicht, die erkannte Fahrzeuge als Objekte anzeigt. Tesla-Kunden kennen das unter anderem aus dem Model 3, nur dass die Anzeige dort stark springt und flattert und damit erklärt, warum der auf Basis dieser Daten agierende "Autopilot" bei Tesla gern ruckartig herumzuckt.

Daimlers System dagegen leistete sich auf rund 400 Testkilometern nur wenige Fehltritte, vor allem aber keine krassen. Sindelfingens Ingenieure haben das "fail gracefully" zum Credo erhoben. Wenn etwas nicht funktioniert, dann eher auf dem Niveau "Auto stellt eine niedrigere Geschwindigkeit als tatsächlich erlaubt ein".

Das HUD markiert den Vorausfahrer mit einem leuchtenden Unterstrich.

(Bild: Clemens Gleich)

Das Fahren in der S-Klasse wird damit sehr entspannt. Wie vorher muss man sich auf das System einlassen, damit die Fusion Lenker-Fahrhilfen optimal gelingt. Leider meckert das Auto immer noch ständig über "Hände nicht am Steuer", obwohl das nicht stimmt. Die S-Klasse hat dazu wie die E-Klasse eine kapazitive Matte im Lenkrad, denn der vorher allein verwendete Drehmomentsensor verlangte einen deutlichen Ruck am Lenkrad zur sicheren Erkennung einer Hand, was so nicht der Weisheit letzter Schluss war.

Diese Matte erkennt eine französisch dirigierende Hand, wie unter anderem ich sie auf der Langstrecke benutze, jedoch nicht. Mit um 180° gedrehter Hand liegen dann meistens genug Finger an, um das Messfeld ausreichend zu dämpfen. Das werden wir uns gelegentlich noch einmal ansehen. Vielleicht können auch E-Klasse-Fahrer DEN Tipp geben zur optimalen Langstrecken-Halteposition des Lenkrads mit kapazitiver Matte.

Eine kapazitive Matte erkennt an der Dämmung des elektrischen Felds, ob die Hände am Lenkrad liegen. Leider meckert das System immer noch gern "Hände hoch!", während man längst lenkt.

(Bild: Clemens Gleich)

Weiterer Schwachpunkt: Das Navi sagt selbst in dieser Generation immer noch manchmal viel zu spät an oder unterschlägt wichtige Nachanweisungen à la "hier rechts und dann sofort links". Altlasten? Auch der Augmented-Reality-Pfeil im HUD funktioniert bei unklarer Routenführung leider schlechter als ein Blick auf die Straßenkarte, auf der die Route markiert ist. Wenn man ihn also nicht bräuchte, reicht er, und wenn man ihn bräuchte, kann man ihm nicht voll vertrauen. Hier gibt es vielleicht noch ein Software-Update für den noch jungen Pfeil. Mit den althergebrachten Mercedes-Navi-Eigenheiten habe ich mich nach all den Jahren abgefunden, die ändern sich glaube ich nicht mehr.

Der ausgezeichnete Sprachassistent des MBUX versteht nun noch besser natürliche Sprache. Durch die an Bord vorhandene Rechenleistung klappt das selbst dann noch gut, wenn keine oder kaum noch ausreichende Netzbandbreite zur Verarbeitung in der Cloud besteht. In solchen Fällen fällt die Spracherkennung bei Konkurrenten deutlich stärker ab. Da der Kunde vom Shift "weniger aus der Cloud, mehr aus dem Bordrechner" nur schlechtere Erkennungsleistung mitbekommt, wird das MBUX in vielen Gegenden des deutschen #Neulands erheblich besser funktionieren als online-abhängigere Konkurrenz.

Nun kaufen die Fahrzeughersteller die pure Spracherkennungs-Software ja zu. Sie setzen sich nur in der Nutzerführung voneinander ab, doch da die gar nicht so unkniffelig ist, kommen da doch erhebliche Unterschiede heraus. Wenn ich mich mit dem MBUX unterhalte, startet das System bei Nichtverstehen zum Beispiel einen zweiten Versuch. Wenn da wieder nichts Verwertbares herauskommt, sagt die Stimme einfach "Sorry, dabei kann ich gerade nicht helfen". Das ist ein weiteres Beispiel für graceful fails. Wie hoch liegt die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem dritten Versuch mehr herauskommt als ein verärgerter Nutzer? Nahe Null. Also packen wir einfach nach dem zweiten Versuch ein. Danke, genau so.