Ex-Siemens-Manager nur Rädchen im "System der Unverantwortlichkeit"

Die Urteilsverkündung im ersten Strafprozess um den milliardenschweren Siemens-Schmiergeldskandal nutzt der Vorsitzende Richter Peter Noll zur Abrechnung mit dem früheren Management.

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Von
  • Christine Schultze
  • Michael Friedrich
  • dpa

Die Urteilsverkündung im ersten Strafprozess um den milliardenschweren Siemens-Schmiergeldskandal nutzt der Vorsitzende Richter Peter Noll zur Abrechnung mit dem früheren Management. Über viele Jahre hinweg habe es bei dem Elektrokonzern ein "System der organisierten Unverantwortlichkeit" gegeben, "der augenzwinkernden Zustimmung", stellt Noll in seiner Urteilsbegründung fest. Den früheren Direktor aus der Siemens-Festnetzsparte ICN, der wegen Untreue in 49 Fällen zu einer Bewährungs- und Geldstrafe verurteilt wurde, sieht das Münchner Landgericht deshalb nur als ein Rädchen in diesem Siemens-System, in dem es ein "weithin erodiertes Rechtsverständnis" gegeben habe. "Alle Kontrollinstanzen und praktisch die gesamte Organisation haben darauf abgezielt, so ein Verhalten zu ermöglichen", kritisiert der Richter.

15 Prozesstage lang hatte die 5. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts München I unter Nolls Vorsitz dubiosen Zahlungen aus der einstigen Telekommunikationssparte in zahlreiche Länder nachgespürt und dabei die Dimension und Zusammenhänge des bisher größten Korruptionsskandals in der deutschen Wirtschaftsgeschichte auf den Tisch gebracht. Über Jahrzehnte hinweg sollen demnach sogenannte nützliche Aufwendungen zur Erlangung von Aufträgen im Ausland bei dem Elektrokonzern an der Tagesordnung gewesen sein. Reinhard S., der das Urteil am Montag mit Erleichterung und kommentarlos aufnahm, hatte schon zu Prozessbeginn die Abwicklung von Zahlungen über Tarnfirmen und fingierte Beraterverträge eingeräumt. Dabei habe er sich nur als "Dienstleister" verstanden, der auf Anweisung und im Interesse seines Unternehmens handelte.

Auch das Gericht ging bei seiner Entscheidungsfindung nicht davon aus, dass der Ex-Manager als "Siemensianer des alten Schlages" dem Konzern schaden wollte, wie Noll erklärte. Der Unrechtmäßigkeit seines Handelns sei sich der 57-Jährige aber sehr wohl bewusst gewesen. Korruption bedeute "schlicht und ergreifend den Griff in fremde Kassen", sagte der Vorsitzende Richter. "Der Zweck war kein altruistisch-selbstloser, sondern ein krimineller." Die persönliche Schuld des Angeklagten relativiere sich aber vor dem Hintergrund des Systems Siemens.

Auf der Zeugenliste des Prozesses, dem angesichts der mittlerweile mehr als 300 Beschuldigten zahlreiche weitere folgen dürften, hatte ursprünglich viel Prominenz gestanden, darunter vor allem der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer und die einstigen Zentralvorstände Heinz-Joachim Neubürger und Thomas Ganswindt. Weil gegen sie ebenfalls ermittelt wird, machten sie aber von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch, und erschienen erst gar nicht als Zeugen vor Gericht. Aus seiner Kritik daran machte Noll am Montag keinen Hehl: "Ich hätte es gut gefunden, wenn die Verantwortlichen auch Verantwortung gezeigt hätten", sagte der Vorsitzende. Bei dem Prozess sei es aber nun einmal um Reinhard S. gegangen und nicht um Personen, die nicht zur Verhandlung kamen.

Ohnehin müssen sich die früheren Top-Manager nun erst einmal mit drohenden Schadenersatzforderungen ihres einstigen Arbeitgebers auseinandersetzen. Am Dienstag sollte der Siemens-Aufsichtsrat darüber in seiner Sitzung beraten. Zur Frage, ob auch auf den verurteilten Reinhard S. mögliche Schadenersatzansprüche zukommen könnten, wollte sich das Unternehmen am Montag nicht äußern. Sein Verteidiger Uwe von Saalfeld zeigte sich aber zuversichtlich: "Siemens wird sich seine Mitarbeit sichern", gab sich der Rechtsanwalt überzeugt. Da sein Mandant mit seinen Unterlagen zur Aufklärung des Schmiergeld-Skandals beigetragen habe, würde eine millionenschwere Schadenersatzklage nur ein schlechtes Licht auf den Konzern werfen, ist Saalfeld überzeugt.

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[Christine Schultze und Michael Friedrich, dpa] (jk)