Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

Seite 13: 1.13 Higgsbi

Inhaltsverzeichnis

"Lasst uns kurz nachdenken", bat Lisa. Wir werden kaum einfach in den Kontrollraum spazieren können. Der ist doch sicher inzwischen fest verschlossen. Und Mathis ist nach wie vor in deren Gewalt. Wäre es nicht einfacher Mathis zu helfen, wenn Prozedur zwei durchgeführt worden ist." Pinja starrte sie an und sagte dann: Du verstehst das nicht. "Wir arbeiten seit fast zehn Jahren an diesem Projekt und sind Teil eines viel größeren Unternehmens, dessen Ausmaße du dir gar nicht vorstellen kannst. Das Paket ist das wertvollste was wir haben. Es würde viele Jahre dauern, wieder diesen Stand zu erreichen. Das geben wir nicht kampflos verloren."

"Können wir nicht versuchen, dem Empfänger ein falsches Paket unterzujubeln?", fragte Lisa weiter. "Das ist unmöglich", fuhr sie Pinja an. "Dazu müssten wir in den LHC Tunnel. Das ist gleich mehrfach lebensgefährlich: Der Teilchenstrahl hat die Energie eines ICEs in voller Fahrt. Außerdem kann das kleinste Leck dazu führen, dass Helium oder Stickstoff austritt und wir aus Sauerstoffmangel ersticken." "Sollte der Teilchenstrahl nicht beim Initiieren eines solchen Alarms gedumpt worden sein?", fragte Lisa hartnäckig weiter. "Ok, doch. Also nur Ersticken", höhnte Pinja und lief los in Richtung Kontrollraum. "Wie oft war das schon der Fall?", hörte Lisa nicht auf und stand immer noch unter dem Lüftungsschacht, während Frank bereits Pinja nachlief. Pinja blieb genervt stehen: "Wie oft war was der Fall?" "Na, dass man im Tunnel erstickt wäre." Zweimal dieses Jahr", gab Pinja zurück. "Deshalb gab es die Produktionsstopps."

Pinja überlegte: "Während der Tests haben wir eine Vorgängerversion der magnetischen Flasche verwendet. Sie ist als Backup noch im Tunnel. Aber ich habe nur einmal zugeschaut, als sie getauscht wurde. Das kriege ich nie hin." "Und kriegst du es hin, die Türe vom Kontrollraum aufzumachen und James und Timothy in die Eier zu treten?", provozierte Lisa weiter. "Letzteres problemlos, ersteres nein. Vermutlich komme ich nicht rein", resignierte Pinja. "Wie lange dauert der Tausch der Pakete?", fragte Lisa. "Damals ging es eine halbe Stunde. Aber sie waren sehr vorsichtig. Vielleicht schafft man es in 15 Minuten, wenn man mit Werkzeug umgehen kann. Aber zu denen gehöre ich nicht", gab Pinja zu. "Ich schon", sagte Lisa. "Zeig es mir, wir haben keine Zeit zu verlieren."

Sie rannten mit drei Taschenlampen bewaffnet, die sie an einer der Sicherheitsschleusen mitgenommen hatten, zum völlig dunklen Speicherring und waren bereits nach ca. 100 Metern Wegstrecke im Tunnel an der Stelle, die das Paket enthielt. "Es ist kein Strahl im Ring, sonst würde man die Magnete leicht brummen hören", sagte Pinja und zeigte Lisa die magnetische Flasche und wo und wie man sie vom Vakuum des Rings und von den Messgeräten abhängen musste. "Ok, das kriege ich hin", sagte Lisa und bat Pinja, die Ersatzflasche zu holen und Frank ihr zu leuchten. Sie steckte die Vakuumschieber in den Ring und fing an, die Schrauben der Halterung abzumontieren.

"Wie gefährlich ist die Substanz da drin?", fragte Lisa als Pinja mit dem Ersatzpaket zurückkam. "Das darf ich dir nicht sagen", wich Pinja aus. "Ich will verdammt nochmal wissen, ob wir hier gleich in die Luft fliegen, wenn wir das Paket fallen lassen", fauchte Lisa sie an, ohne ihr Arbeitstempo zu reduzieren. "Die Substanz ist harmlos", war Pinjas zögerliche Antwort. Wenn das Magnetfeld zusammenbricht, fällt die Substanz einfach zum Erdmittelpunkt und bleibt dort für den Rest der Erdgeschichte ohne Schaden anzurichten." In ihren Händen hielten sie eine nicht einmal zwei kg schwere Box, die dem Paket im Speicherring zum Verwechseln ähnlich sah. Lisa dachte noch über die Antwort von Pinja nach und warum das Paket dann so wertvoll sein sollte, als die letzte Schraube gelöst und die elektrischen Stecker abgezogen waren, sodass sie jetzt tauschen konnten.

Beim Anziehen der Schrauben fragte Lisa wieder: "Wem ist schon etwas passiert?" Pinja sah sie fragend an und als sie merkte, dass das in der Dunkelheit nicht zu sehen war, fragte sie: "Was?" Lisa sagte ungeduldig: "...nicht auch noch etwas passiert. Mathis Worte!" "Das war nur so dahergesagt... Jeden Moment könnte der automatische Verladevorgang zur Rakete beginnen", drängte Pinja, "du musst dich beeilen!" Gerade als Lisa die letzten Schrauben anziehen wollte, gab es ein leichtes Klicken und Pinja schrie: "Finger weg." Die Box wurde aus der Halterung gesprengt und fiel in ein Rohr, in dem sie per Rohrpost zur Rakete befördert wurde. Sie hatten es gerade noch geschafft.

"Es gibt einen Weg, wie wir das Paket in Sicherheit bringen können. Der Speichertunnel. Wenn es in der Luft und auf der Erde nicht mehr sicher ist, könnten wir es unter der Erde versuchen", sagte Pinja und fuhr fort, "Von hier sind es ca. 5 km bis zum Atlas Detektor, der nächsten Stelle, an der wir wieder nach oben kommen könnten." "Das dauert aber eine Stunde, bis wir da ankommen. Wird der Schwindel bis dahin nicht aufgeflogen sein und diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden? Man könnte uns dort das echte Paket abjagen", gab Frank zu bedenken. "Du willst dich doch nur ums Joggen drücken", grinste Pinja. "Aber keine Angst. Hier unten bewegt man sich selten zu Fuß." Die Szene war gänzlich unwirklich: durch den Tunnel fuhren zwei Frauen und ein Mann auf Fahrrädern mit einer Box auf dem Gepäckträger, die die angeblich wertvollste Substanz der Welt enthielt.

"Was ist in der magnetischen Flasche?", wollte Lisa jetzt wissen. Sie fuhr als Zweite direkt hinter Pinja und war doch eher überrascht, als diese antwortete: "Was ich euch jetzt sage, sollten keine 30 Menschen auf diesem Planeten wissen. Leider scheinen es doch ein paar mehr zu sein als geplant. In der Flasche befinden sich 1,92 tausendstel Gramm Higgsbi-Materie." Schweigen. "Vor ungefähr zehn Jahren, als den europäischen Staaten das Geld ausging und der Ausbau des LHC zur 20 Gigaelektronenvolt (GeV) Anlage gestoppt wurde, hat CernMatter die gesamten Anlagen des CERN von den europäischen Betreiberstaaten für etliche Milliarden abgekauft, um dort eigene Forschung zu betreiben. Ein verrückter Wissenschaftler hatte zuvor eine Theorie entwickelt, dass es ein zweites, stabiles Higgs-Teilchen geben könnte, das zuerst Higgsb, später Higgsbi genannt wurde. Die Veröffentlichung der Theorie wurde allerdings gleich auf mehreren Konferenzen abgelehnt, weil sie angeblich zu unwissenschaftlich war. Irgendwie trafen sich Mathew Wildsmith, ein sehr großer Investor, und der Wissenschaftler und kamen ins Gespräch. Mathew Wildsmith verstand sofort die Tragweite der Theorie und stellte das enorme Volumen an Kapital bereit, um die Firma CernMatter zu gründen, die er dann auch gleich als Präsident leitete. Zuerst war der Bau eines eigenen Beschleunigers geplant, aber als die Wirtschaftskrise die europäischen Staaten erfasste, ergriff er eben die Gelegenheit zum Kauf des CERN. Er vollendete als Erstes den Ausbau des LHC, legte die teuren Detektoren CMS und Atlas still, übernahm die wichtigsten Mitarbeiter und einige Physiker und kappte alle Leitungen am LHCb Detektor, die nach draußen gingen. Und schon nach einem Jahr konnten wir das Teilchen bei 17 GeV nachweisen. Weitere sechs Jahre später waren wir in der Lage, es herzustellen und zu speichern."

"Warum sollte ein Geldgeber in die Entdeckung eines zweiten Higgs-Teilchens investieren und dann auch noch diese Entdeckung geheim halten?", fragte Lisa. "Ich hätte doch davon erfahren, wenn ein neues Teilchen entdeckt wurde." Nach einer Pause antwortete Pinja: "Weil es bistabil ist." Nachdem Frank schon vor einiger Zeit aufgegeben hatte, diesen physikalischen Gesprächen zu folgen, war jetzt auch bei Lisa der Punkt erreicht, an dem sie nichts mehr verstand. "Bistabil?", fragte sie unsicher. "Higgsbi kommt in zwei Anregungszuständen vor. Die Anregung erfolgt aber nicht elektromagnetisch durch Übertragung von Photonen. Die Anregung erfolgt durch Übertragung von Masse. Higgsbi ist in der Lage, einen kleinen Teil der Masse eines anderen Teilchens aufzunehmen und bei Bedarf wieder abzugeben. Kannst du dir vorstellen, was das heißt?" Lisa schüttelte den Kopf. Das konnte sie beim besten Willen nicht. Und schon gar nicht nach einem militärischen Angriff, einer Geiselnahme, einer Flucht durch den Lüftungsschacht, einer Demontage eines LHC-Geräts und einer Fahrradfahrt durch den Tunnel des LHC. "Denke darüber nach", sagte Pinja und setzte fort, "aber denke sehr groß!"