Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

Seite 9: 1.9 Erholung

Inhaltsverzeichnis

Tom ging es von Tag zu Tag besser. Inzwischen war er schon zehn Tage in dieser seltsamen und fremden Zellenwelt. Wobei er sich über den Begriff Tag noch nicht ganz so sicher war. Als es am ersten Tag plötzlich hell wurde und noch etwas später eine helle, gelbe Sonne am Himmel erschien, war von Tom jeglicher Zweifel über sein Schicksal gewichen, und er erkannte, dass er sich auf einem Exoplaneten befand, dass er um einen fremden, wenig röteren und größeren Stern als die Sonne kreiste. Zumindest sah er größer aus am Himmel, was aber auch eine nähere Umlaufbahn des Exoplaneten bedeuten konnte. Zwischen Aufgang und Untergang der Sonne lagen aber gefühlt deutlich weniger als zwölf Stunden. Er schätzte eher auf sieben bis acht Stunden Taglänge und auch in etwa dieselbe Länge für die Nacht. Inzwischen schlief er einigermaßen gut in einem aus Blättern, beziehungsweise etwas, was Blättern auf der Erde am nächsten kam, notdürftig gepolsterten Nest, was ziemlich primitiv wirkte, aber das Beste war, was er mit dem vorhandenen Material machen konnte. Und außerdem wollte er ja, dass sie ihn für primitiv hielten.

Die ersten Tage konnte Tom aber kein Auge zu tun und so war ihm die Dauer der Nacht nur allzu bewusst. Wie gut sein früher exzellentes Zeitgefühl allerdings nach dem Aufenthalt im All und der langen Reise noch war, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Die zehn Tage hier waren aber wohl nicht mehr als sechs Tage auf der Erde gewesen. Inzwischen hatte er seinen Schlafrhythmus an die Tage und Nächte angepasst. Er schlief etwa fünf bis sechs Stunden und war dann geschätzte zehn bis elf Stunden wach.

Er konnte jetzt auch wieder normal laufen und seine Arme und Beine hatten wieder merklich an Muskelmasse zugenommen. Das erstaunte ihn selbst, denn es war keinesfalls selbstverständlich, dass es in dieser fremden Welt etwas zu essen gab, das auch nur annähernd ähnlich genug zu irdischen Eiweißen, Kohlehydraten oder Fetten war, von Vitaminen oder ähnlichem ganz zu schweigen. Aber den weißen Brei, der ihm zweimal täglich durch die Klappe gereicht wurde, vertrug er so gut, dass er sich bald besser fühlte und sich täglich mehr bewegte. Die gelben Früchte hatte er ebenfalls probiert und für gut befunden. Ihr Geschmack erinnerte ihn ein wenig an den von Erdbeeren. Die schwarzen, glänzenden Früchte von der Größe von Heidelbeeren, die er am vierten oder fünften Tag bekam, schmeckten zwar gut, er musste sie aber nach wenigen Minuten wieder erbrechen. Deshalb ließ er sie jetzt erst einmal weg. Dass die Verträglichkeit des Essens ein großer Zufall war, glaubte Tom inzwischen nicht mehr. Anscheinend waren die Bausteine des Lebens gar nicht so variabel, wie es hätte sein können.

Jeden Tag zermarterte sich Tom den Kopf, wie er in diese Lage kommen konnte. Wie um alles in der Welt kann er in so kurzer Zeit auf einen Exoplaneten gelangt sein? Selbst der nächste Stern zur Sonne, Proxima Centauri, lag über vier Lichtjahre von der Sonne entfernt und der nächste bekannte Stern mit einem Exoplaneten im habitablen Bereich schon 20 Lichtjahre. Aber er war keine 20 Jahre ohnmächtig gewesen. Hatten sie Wurmlöcher, also Abkürzungen durch den Raum unter Verwendung anderer Dimensionen? Unwahrscheinlich. Konnten sie Beamen? Es gab keine physikalische Grundlage, die er sah, die das möglich machen sollte. Hatten sie Raumschiffe, die annähernd Lichtgeschwindigkeit fliegen konnten? Sein Kopf hatte förmlich geraucht, als er versuchte, die Zeit- und Raumdillatation der speziellen Relativitätstheorie zu berücksichtigen. Wenn man sehr schnell fliegt, verkürzen sich laut Einstein Distanzen und die Zeit läuft langsamer, sodass die entsprechende Zeit für einen solchen Flug verringert wird. Zumindest im eigenen Inertialsystem des Raumschiffs. Aber umso schnell zu fliegen, muss man erst einmal zu dieser Geschwindigkeit beschleunigen. Und da der Mensch auf Dauer nicht viel mehr als die Erdbeschleunigung G aushält, dauert das.

Tom hätte alles für einen einfachen Taschenrechner für die Berechnungen gegeben. Das alles im Kopf zu machen überforderte ihn. Er überschlug ganz grob, dass man für eine 20 Lichtjahre weite Reise mehr als 3.5 Jahre unterwegs sein würde, wenn man es schaffte, ein G Beschleunigung die ganze Zeit aufrecht zu halten. Auf der Erde würden dabei mehr als 20 Jahre vergehen. Das war eben das Zwillingsparadoxon von Einstein. Aber das schaffte man nicht. Der Energiebedarf für eine solche Beschleunigung wächst exponentiell, weil mit der Geschwindigkeit auch die Masse zunimmt. Und außerdem war er nun mal keine 3.5 Jahre unterwegs gewesen, da war er sich sicher. Wie also haben diese Außerirdischen das angestellt? Es war offensichtlich, dass sie technologisch deutlich höher entwickelt sein mussten, als die Menschheit auf der Erde befand Tom.

Wenn er gerade nicht versuchte, Erklärungen für seine Situation zu suchen, lief Tom durch seine Zelle, begutachtete unauffällig die Wände, den Boden und die Decke. Besonders anstrengen musste er sich nicht, primitiv zu wirken, denn ohne irgendwelche Gegenstände menschlicher Zivilisation konnte er keine besonders fortschrittlichen Tätigkeiten wie E-Mails checken oder Auto fahren durchführen. Es war ihm sehr bald sehr langweilig. Besonders hätte er sich Papier und Bleistift gewünscht, um seine Beobachtungen und Gedanken aufschreiben zu können. Erstere waren ein zweiter Grund, warum es ihm langweilig war. Er hatte so gut wie keinen Kontakt mit den Außerirdischen. Inzwischen war er nahe dran, seine Strategie des dumm Stellens aufzugeben. Er hatte schon einige Ideen, wie er das auch ohne Werkzeug machen könnte. Doch dann, als er am 13. Tag aufwachte, stand plötzlich Eva in der schwachen Morgendämmerung vor ihm.