Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

Seite 7: 1.7 Entscheidung

Inhaltsverzeichnis

Der Durst wurde immer quälender, erreichte aber noch nicht genug Qual, um wieder von dem verfaulten Wasser des Sees zu trinken. Tom bewegte die Finger, die Arme, die Beine, den Nacken. Alles war eingerostet und schmerzte, aber mit jeder Bewegung schien es ein wenig besser zu werden. Plötzlich gab es ein leises, klackendes Geräusch. Eine Klappe an der Rückwand seiner Zelle öffnete sich und ein Tablett mit Gefäßen, kleinen Bechern, wurde durch die Öffnung geschoben. In einem Bruchteil einer Sekunde konnte Tom zwei Augen erhaschen, die durch den Spalt zu ihm blickten und jetzt stand fest: solche Augen hat er auf der Erde noch nie gesehen. Es waren keine irdischen Augen. Es waren außerirdische Augen. Ohne den Blick von der nun wieder geschlossenen Stelle an der Wand abzuwenden, gingen Tom tausende von Gedanken durch den schwindelnden Kopf. Falsche Schwerkraft. Fremde Augen. Wo war er? Wer waren sie?

Er hatte als Kind schon davon geträumt, es noch zu erleben, wenn die Menschen Kontakt mit Außerirdischen aufnehmen, Botschaften von ihnen empfangen und zu ihnen senden würden. Er wollte dabei sein, wenn es darum ging, die Botschaften in einer fremden Sprache von einer fremden Welt zu entschlüsseln und eine Verständigung zu entwickeln. Er hatte die Vorstellung, dass Interaktion wegen der großen Entfernungen im Weltraum im Takt von bestenfalls 20 Jahren erfolgen könnte, weil die nächsten bekannten Sterne mit Exoplaneten 20 Lichtjahre entfernt waren. Und nun hatte ihn ein Augenpaar aus fünf Metern Entfernung angesehen, dessen Abstand und rote Farbe einfach nicht irdisch waren. Er fasste eine Entscheidung. Er wollte nicht verzweifeln. Er war Forscher. Er wollte diese Wesen erforschen, auch wenn keine Aussicht bestand, dass irgendjemand auf der Erde jemals von seinen Ergebnissen erfahren würde.

Auf dem Tablett standen 16 Becher in vier Reihen und vier Spalten säuberlich angeordnet und farblich mit je zwei Symbolen markiert. Also auch sie wollten ihn erforschen. Tom musste noch eine Entscheidung treffen: Er konnte versuchen, sie von seiner Intelligenz zu überzeugen und so mit ihnen quasi auf Augenhöhe eine Kommunikation zustande zu bringen. Je mehr er darüber nachdachte, desto schwieriger erschien ihm das. Die Menschheit fährt in Autos umher, ist mit Raketen zum Mond geflogen und hat Computer entwickelt, die selbst schon anfangen, intelligent zu sein. Aber Tom hatte hier keine Autos, Raketen und Computer dabei. Er konnte nicht einfach sagen, seht her, das haben wir gebaut. Er hatte nichts, außer sich selbst. Es war ihm noch nie so bewusst geworden, wie sehr unser Fortschritt und auch die Intelligenz ein Produkt des Schwarms Menschheit und seiner Umgebung ist und wie wenig ein einzelner Mensch von dieser Gesamt-Intelligenz in sich trägt.

Oder er konnte sich dumm stellen und sie im Glauben lassen, dass sie ihn erforschten, während er in Wirklichkeit sie erforschte. "So wie die Mäuse in Douglas Adams 'Per Anhalter durch die Galaxis'." Vielleicht gelang es ihm dann irgendwann auszunutzen, dass sie ihn unterschätzten und zu fliehen. Aber zu fliehen wohin? Er würde nie zurück auf die Erde kommen. Wie auch? Tom hätte verzweifeln können, aber die Entscheidung war gefallen. Er würde diese Wesen erforschen. Und da es nun einmal nicht funktionieren würde, sich intelligent zu geben und danach noch dumm zu stellen, wählte er den umgekehrten Weg.

Als sich Tom nach gefühlten zwanzig Minuten zu dem Tablett geschleppt hatte, sah er, dass jeder Becher mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Schon etwas vorher konnte er die Symbole erkennen. Einen Kreis, eine Art Tropfen, ein Halbkreis und ein Dreieck. Zahlen. Sie hatten Symbole für Ziffern wie wir! Die Anzahl der Ecken entsprach der Ziffer. Der Tropfen für die eins, der Halbkreis für die zwei, das Dreieck für die drei und der Kreis wohl für die null. So war es weniger der Durst als vielmehr die Aufregung darüber, eine erste Erkenntnis über diese außerirdische Intelligenz gewonnen zu haben, die ihn vorantrieb in Richtung Tablett. Denn eins war klar: der einfachste Einstieg in irgendeine Art der intelligenten Kommunikation war mithilfe von Zahlen. Hier gab es viele andere Dinge, die er noch nie auf der Erde gesehen hatte und für die er keinen Namen hatte. Sie würden dafür aber auch für alles, was es auch auf der Erde gab, andere Worte haben. Aber die Zahlen, die Mathematik, die physikalischen Gesetze waren überall im Weltraum gleich. Mithilfe der Zahlen würde es ihm gelingen zu sehen, wie weit ihre Mathematik und ihr Bild vom Universum war. Und damit behielt er recht und irrte sich zugleich. Er behielt recht, dass die Zahlen der Einstieg zu allem waren. Er irrte sich, weil sie keine anderen Worte für die Dinge dieser Welt hatten. Sie hatten gar keine Worte. Sie dachten und kommunizierten nicht in Worten, sondern in Bildern. Sie sprachen nicht zu Toms Ohren. Sie sprachen zu seinen Augen. Das war Fluch und Segen zugleich. Segen, weil er die Außerirdischen sehr schnell verstehen konnte. Fluch, weil er nicht zu ihnen sprechen konnte. Sie verstanden ihn nicht, weil sie so gut wie gar nicht hören konnten.