Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

Seite 4: 1.4 Erkenntnis

Inhaltsverzeichnis

Tom saß im Sand und dachte über den kleinen Stein nach, den er gegen eine große Holzwand geworfen hatte. Er war abgeprallt und er war zu Boden gefallen. Dieser kleine, unscheinbare Stein wuchs sich für Tom zu einem großen Problem aus. Das Problem war, dass er zu langsam zu Boden gefallen war. Deutlich zu langsam. Ein Stein fällt immer gleich schnell zu Boden, egal wie groß er ist und egal wie schwer er ist. Dieser Stein fiel langsamer. Zu langsam.

Als er über die Schwerkraft nachdachte, fiel ihm auch wieder ein, dass er ein Astronaut der europäischen Raumstation war. Er war Teil einer zweiköpfigen Besatzung und sollte noch zwei Monate auf der ESS forschen dürfen. Es gab einen Kollisions-Voralarm. Als keine Verbindung zur Erde zustande kam, folgten sie den eintrainierten Sequenzen und begaben sich zur Sicherheit in die Sojus-Kapsel. Es konnte immer wieder mal vorkommen, dass der Radar Weltraumschrott erfasste. Wenn dieser nahe an der ESS vorbeiflog, wurde Alarm ausgelöst. Nichts Besonderes. Aber dieses Mal gab es tatsächlich einen leichten Ruck, wie durch einen leichten Aufprall und man hörte auch einen dumpfen Knall im Metall. Die Druckanzeige in der Station schwankte zwar kurz, war dann aber wieder normal. Als sie dann nach 20 Minuten die Schleuse wieder öffneten... Filmriss. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was dann geschah.

Die erste Frage, die sich Tom stellte, war natürlich, wo Iris war, seine Kollegin von der ESS. Dann fragte er sich, wie er von der ESS wieder zurück auf die Erde gekommen war. Der Fall eines kleinen, einfachen Steins zerbröselte diese Frage jedoch zu einem Nichts. Der Stein war zu langsam gefallen. Steine fallen immer gleich schnell. Auf der Erde. Dieser war aber nicht so schnell gefallen. Dafür gab es nicht gerade viele mögliche Erklärungen. Die Luft konnte ihn gebremst haben. Aber der Stein wog geschätzte 50 Gramm und war so klein wie ein Stein mit diesem Gewicht eben war. Also keine Feder, die in der Luft langsam nach unten gleiten würde. Weitere verzweifelte Möglichkeiten wie Magnetismus oder ein elektrisches Feld gingen durch seinen Kopf, die den Fall hätten bremsen können. Aber im Grunde war Tom schon beim Hinunterfallen des Steins klar, dass die Schwerkraft schuld war. Sie war einfach viel zu schwach. Zu schwach, um an der Oberfläche der Erde zu sein. Er schätzte sie auf maximal ein Drittel der Schwerkraft der Erde, so langsam wie der Stein fiel. Auch die Kraft seiner dünnen Ärmchen und Beinchen hätte auf der Erde kaum gereicht, um sich aufzusetzen oder zu krabbeln.

Seine Arme und Beine hatten in den vier Monaten auf der ESS durch die Schwerelosigkeit zwar etwas an Muskelkraft eingebüßt, waren aber sicher keine so dünnen Spargel wie jetzt. So mussten seit seinem Filmriss mindestens drei bis vier Wochen wahrscheinlich mehr vergangen sein, in denen er sich praktisch nicht bewegt hatte. Damit hatte er zumindest einen ersten sehr groben Anhaltspunkt über die vergangene Zeit. Seine Uhr hatte er nicht mehr an. Er hatte praktisch gar nichts an.

Wo aber war die Schwerkraft ein Drittel die der Erde? Und wo gab es da noch Wasser, feinen Sand und einen offensichtlich gebauten Holzzaun mit Tür? Im Inneren der Erde, wo sich ein Teil der Schwerkraft durch die Erde über einem aufhebt, könnte dies der Fall sein. Dort wäre es aber so heiß, dass die 30 Grad, die er um sich herum schätzte, kaum zu halten gewesen wären. Außerdem sah er ja den Himmel über sich. Merkur und Mars könnten passen, aber auch bei ihnen war es nicht zu erklären, dass er unter freiem Himmel einfach so atmen konnte. Merkur hat gar keine Atmosphäre, Mars nur eine sehr geringe. Ein Drittel Schwerkraft konnte es ansonsten nur auf einem Exoplaneten, also einem Planeten, der um einen anderen Stern als die Sonne kreist, oder in einem Raumschiff geben, das sich um seine eigene Achse dreht. Nur müsste man auf so einem Raumschiff diese Achse sehen, wenn man nach oben blickt. So wusste er im Grund nur eines sicher, nämlich wo er nicht war. Er war nicht auf der ESS und er war nicht auf der Erde.

Tom ging noch einmal alle Möglichkeiten durch. Es konnte ein Traum sein. Aber auch wenn er zum Teil noch etwas desorientiert war, wusste er sicher, dass es keiner war. Er konnte sich in der Geschwindigkeit des Falls getäuscht haben. Vielleicht war sein Zeitgefühl in dieser bizarren Situation einfach hopps gegangen? Immerhin vertraute er eine Erkenntnis mit solcher Tragweite, nicht auf der Erde zu sein, seiner einzigen Quelle für Zeit an, nämlich langsam 21, 22, 23 zu zählen. Er fasste sich an den Hals. Auch sein Puls war eine Zeitquelle. 70. Sein Ruhepuls war früher eigentlich 60, aber durch den Aufenthalt in der ESS und seiner jetzigen Verfassung war auch 70 im Bereich des Möglichen. Zumindest stimmten sein Zählrhythmus und sein Puls in etwa überein. Er irrte sich also nicht, was die Geschwindigkeit des Steins anging. Als früherer Fußballer hatte er das eh auf einen Blick gesehen.

Und auch wenn man die Frage, wie zum Teufel er dort hingekommen sein konnte ausklammerte, konnte er wohl kaum auf dem Merkur oder Mars sein. Auf Merkur war es zu heiß, auf Mars viel zu kalt, um flüssiges Wasser zu haben. Und dass dort jemand eine beheizte Stube wie diese betrieb, war wohl auszuschließen. Ein Planet oder Mond in einem anderen Sonnensystem könnte zwar solche Bedingungen bieten. Aber hier war die Frage, wie er dorthin gelangt sein konnte, einfach nicht mehr auszuklammern. Diese waren Lichtjahre entfernt. Selbst wenn man die Frage der Antriebstechnologie einmal bei Seite lässt, ist es immer noch so, dass ein menschlicher Körper nur eine bestimmte Beschleunigung aushält. Eine Reise zum nächsten Stern würde nicht nur hunderte, sondern tausende von Tagen benötigen, wenn man sie überleben wollte. Und so viel war er nicht gealtert. Das stand fest. Also auf einem Raumschiff? Von Außerirdischen entführt? Nein, er würde nicht zu einem dieser Spinner werden, die das behaupteten. Wenn er aber nun einmal die Annahme akzeptierte, dass die Schwerkraft nicht stimmte, stand eines fest: Er war nicht von allein in diese Situation gekommen. Und es schien ihm die wahrscheinlichste der Varianten zu sein, wenn der Begriff Wahrscheinlichkeit hier überhaupt eine Bedeutung hatte.