Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 1

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Inhaltsverzeichnis

Das Handy riss Frank um sechs Uhr montagmorgens aus dem Schlaf. Er zählte nicht zu den Langschläfern, aber um diese Zeit ging es ohne Wecker einfach nicht. Zur Sicherheit hatte er sogar noch einen zweiten gestellt. Nach einer kalten Dusche zog er sich den Anzug an, den er am Abend vorher schon ausgesucht hatte. Er tat jedenfalls so, als würde er einen aussuchen. Tatsächlich hatte er nur einen Anzug, den er bei der Verteidigung seiner Doktorarbeit von seiner Mutter aufgezwungen bekommen hatte.

Während er ohne viel Hunger zu verspüren ein trockenes Brötchen aß, formulierte und schrieb er das Mail an seinen Chef. Die so kurzfristige Zusage zu einem Gespräch ließ natürlich nicht zu, dass er für heute Urlaub nahm. Es wäre zu kurzfristig und damit zu auffällig. Also schrieb er einfach, dass es ihm nicht gut gehe und er vielleicht am Nachmittag reinkommt, wenn es ihm besser gehe. Einmal konnte ja auch er Montag-Morgen-krank sein.

Frank fuhr mit dem Zug nach Vernier von wo aus er bequem zu Fuß in die Route du Nant-d’Avril laufen konnte. Alles verlief wie nach Plan, er war bereits um 7:30 dort und konnte noch einen kleinen Spaziergang machen, als beim Verlassen des Bahnhofs eine weibliche Stimme hinter ihm "Hallo" sagte. Er drehte sich um und zuckte zusammen: die Joggerin.

"Hallo", stammelte er und fügte nach einer Pause hinzu, "Sie sind nicht joggen." Sofort errötete er, weil er die Sinnlosigkeit und Offensichtlichkeit seiner Worte erkannte. Doch die Joggerin lächelte nur und sagte: "Nein, leider nicht. Ich bin unterwegs zu einem Bewerbungsgespräch." "Ich auch", sagte Frank erstaunt und freute sich, dass es endlich etwas gab, über das sie reden konnten, ohne dass er sich wie ein Trottel anstellte. "Also ich habe bereits einen Job", fügte er hinzu, um nicht wie ein Berufseinsteiger dazustehen, "will mich aber verbessern. Kam recht kurzfristig. Aber wenn es klappt, habe ich einen richtig coolen Job." Erneut lächelte die Joggerin: "Ja, ich habe auch schon einen Job. Ich muss los, sonst komme ich noch zu spät. Zu spät kommen macht einen sehr schlechten Eindruck bei Bewerbungsgesprächen! Viel Glück!" "Ihnen auch!", erwiderte Frank und sah ihr nach. Es dauerte ganze fünf Minuten bis er registrierte, dass er sie nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

An der Rezeption meldete sich Frank zu dem Gespräch mit Frau Rieki an. "Wir haben drei Frau Rieki!", meinte der Herr an der Rezeption gelassen. "Welche darf es denn sein?" Frank fluchte innerlich. Er hatte den Namen noch nie gehört und hier gab es gleich drei davon. Er hatte keine Ahnung, welche es war. Die Unterschrift war lediglich Rieki gewesen. "Es ist ein Bewerbungsgespräch. Sie wird also im Personal arbeiten." "0 Treffer. Zeigen sie mir doch bitte ihre Einladung." Jetzt wurde Frank puterrot. Er hatte das Schreiben natürlich dabei, aber es war ja eine Absage gewesen im Klartext. Er stand vor der Wahl, dem Rezeptionisten entweder zu erklären, warum er trotz Absage hier erschien, oder ihn in die Feinheiten der codierten Zusage in Frau Riekis Unterschrift einzuführen.

"Ist gut, Thomas", kam eine Stimme von hinten. "Wir hatten unseren Spaß. Ich übernehme jetzt. Danke fürs mitspielen." "Pinja, für dich doch immer", lachte der Rezeptionist. Frank dreht sich um und beim Anblick von Pinja Rieki wandelte sich das Rot seines Kopfes in ein Rot, für das erst noch ein Name erfunden werden muss. Die Joggerin! Das Bewerbungsgespräch, von dem sie redete, war also seines gewesen. Ihr Job, von dem sie redete, war es, ihn zu interviewen. Alle seine Formulierungen und Argumente, ihn für den Job auszuwählen, alle seine Vorbereitungen für das Gespräch waren in einem schwarzen Loch verschwunden und aus seinem Gedächtnis gelöscht. Er würde wieder nur Unsinnigkeiten stammeln.

"Bitte verzeihen Sie mir diesen kleinen Spaß heute Morgen", meinte Frau Rieki, "aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Bitte folgen Sie mir. Wir haben einen Arbeitsraum für das Gespräch eingerichtet." Sie fuhren mit einem der Fahrstühle in den fünften Stock und mit jedem Stock nahm das Rot in Franks Gesicht etwas ab. Oben traten sie direkt gegenüber in einen nicht sehr großen Raum mit vier Computern und einigen freien Tischen. "Darf ich ihnen Mathis Dupont vorstellen? Wir werden zusammen die Auswahl der Bewerber vornehmen." Frank und Mathis reichten sich die Hand. "Wie es aussieht, haben sie die erste Runde bereits kampflos überstanden", begrüßte Mathis Frank freundlich. "Darf ich ihnen einen Kaffee anbieten?" "Sehr gerne", antwortete Frank. "Milch, Zucker?", fragte Pinja im Hinausgehen. "Lass mal Pinja, ich mache das schon", bedeutete ihr Mathis und ging zur Tür. "Nur Milch", meinte Frank immer noch strahlend über die Nachricht, dass nur er den Code geknackt hatte.

Als Mathis weg war, fragte er unsicher: "Die erste Runde?" "Bitte nehmen wir doch erst einmal Platz", wies Pinja auf einen der Stühle und setzte sich, nachdem Frank Platz genommen hatte, auf einen Stuhl gegenüber. "Ja, wir hatten ursprünglich die erste Stunde vorgesehen, um aus den Bewerbern, die unseren Code geknackt haben, eine geeignete Kandidatin oder einen geeigneten Kandidaten für die zweite Runde auszuwählen. Bisher sind sie der einzige, der sich vorab gemeldet hat. Wir warten aber noch ab, ob jemand ohne Rückmeldung kommt, oder ob jemand geantwortet hat, dessen Antwort wir nicht knacken konnten", meinte sie sichtlich amüsiert. Frank bemühte sich, dass man ihm nicht ansah, wie er sich ausrechnete, wie viele Stunden dieser Tag noch hatte und wie viele Runden er überstehen musste. "Für die zweite Runde um 9 Uhr", setzte Pinja fort, "haben wir die Bewerber anders ausgesucht und kennen die Anzahl bereits. Bis dahin können wir ja noch etwas plaudern."

Eine Mischung aus Erleichterung und Unsicherheit bewegte Frank. Er freute sich natürlich, dass er als einziger die erste Runde überstanden hatte. Aber eine Stunde einfach nur plaudern konnte seine Chance auf den Job erheblich verschlechtern. "Ist ihnen die Lösung beim Joggen gekommen?", fragte Pinja. "Wie bitte?", kam von Frank überrascht zurück. "Der Code. Hatten sie die Idee beim Joggen? Ich kann Stunden über einem Rätsel brüten ohne Erfolg und wenn ich dann Joggen gehe, fällt mir die Lösung praktisch von alleine in den Schoß." "Nein", meinte Frank, bei mir war es andersherum. Ich habe mich einfach hingesetzt und gebrütet und probiert, bis mir die Lösung kam. Dafür habe ich mich dann mit Joggen belohnt."

Mathis kam zurück mit zwei Tassen Kaffee: "Mit Milch für sie, mit Milch und Zucker für dich." Er selbst nahm sich ein Mineralwasser und setzte sich neben Pinja. "Was hältst du von Herrn Baumgartner", fragte er Pinja und irgendwie schien er die Zweideutigkeit der Frage gerne in Kauf zu nehmen. "Wir sind noch nicht über das Joggen hinaus gekommen", gab Pinja demonstrativ zweideutig zurück. "Na dann erzählen sie uns doch mal, was sie außer Joggen so machen", wandte sich Mathis an Frank.

Um zehn vor neun erlöste Mathis Handy Frank aus dieser ersten Fragerunde. "Ok, ich komme", sprach er ins Telefon. "Die zweite Runde ist sehr pünktlich", meinte er mit Blick auf seine Uhr und ging hinaus. "Mit wie vielen Runden muss ich denn rechnen?", getraute sich Frank jetzt zu fragen. "Es sind nur diese zwei Runden. Aber ich hoffe, sie haben noch etwas Zeit mitgebracht. Die zweite Runde würden wir gerne etwas ausführlicher gestalten." "Was heißt das?", wollte Frank wissen. "Wir möchten sie gerne mit einer Aufgabe betrauen, die sie gemeinsam lösen sollen und denken, dass das gut drei Stunden in Anspruch nehmen wird." Frank hatte von solchen Assessments gehört, hatte sich auch darauf eingestellt, dass das Gespräch in Anwesenheit aller Kandidaten stattfinden könnte, in dem Mann gegen Mann ’gekämpft’ wurde. Dieser Gedanke zerschlug sich gerade in zweifacher Hinsicht: zum einen sollte er also in Kollaboration mit seinen Konkurrenten eine Aufgabe lösen, nicht gegen sie. Und zum zweiten kam gerade Mathis mit Lisa herein. Sein Gegner war also eine Frau und kein Mann. Zu ärgerlich. Gegen einen Mann hätte er mit harten Bandagen gekämpft. Aber gegen eine Frau konnte er das einfach nicht. Er hatte nie eine Schwester, die ihm schon handfest vermittelt hätte, dass Mädchen nicht aus Zucker sind. Er musste sich bisher überhaupt noch nie gegen eine Frau durchsetzen. Vielleicht abgesehen von seiner Mutter, der er beibringen musste, dass er nach Lausanne ziehen wollte.

Lisa war einigermaßen verärgert, nachdem sie auch von Frau Rieki begrüßt und Frank vorgestellt worden war. Da war sie schon super pünktlich und doch plauderte ein anderer Kandidat bereits munter, schmeichelte sich ein und hatte mindestens eine Tasse Kaffee ausgetrunken. "Tolle Chancengleichheit", dachte sie bemüht, es nicht laut zu denken. Sie wollte ja nicht gleich zu Beginn gegenüber dieser Frau Rieki stutenbissig dastehen. Natürlich ärgerte sie sich auch über sich selbst, dass sie gedacht hatte, die Prüfung im Café Mategnin sei die einzige auf dem Weg zum Auftrag gewesen.

Was ihr aber wirklich die Laune verdarb, war der Name des Kandidaten. Ausgerechnet Baumgartner. Hießen eigentlich alle in Deutschland so? Gerade jetzt, als sie es am wenigsten brauchen konnte, wurde sie wieder an den Tod ihrer Mutter erinnert. Ihre Mutter war als Lisa drei Jahre alt war bei der Evakuierung der europäischen Raumstation mit der Landekapsel in der Atmosphäre zusammen mit dem Astronauten Baumgartner verglüht. Das Bild der beiden Kreuze mit den Namen Aquitaine und Baumgartner hatte sich genauso in ihr Gedächtnis eingebrannt wie die Tränen auf dem Gesicht ihres Vaters und der schwangeren Frau Baumgartner. Sie selbst hatte nicht geweint. Sie war einfach nur wütend auf ihre Mutter und hat es ihr nie verziehen, dass sie sie für einen Flug in den Weltraum verlassen hatte, ihr Leben dabei riskierte und dann auch verlor.

"Nehmen sie doch Platz", sagte Mathis und bot auch der kurz zusammenzuckenden Lisa einen Kaffee an. "Nein danke, ich trinke keinen Kaffee", erwiderte Lisa bestimmt. "Richtig", erinnerte sich Mathis, "aber leider haben wir nur H-Milch im Haus. Darf es ein Mineralwasser oder ein Tee sein?" "Gerne ein Mineralwasser", sagte sie und freute sich irgendwie, dass Herr Dupont sich daran erinnerte, was sie als Getränk im Mategnin auf dem Tisch stehen hatte.

Sie setzten sich. "Jetzt da wir vollzählig sind", begann Mathis, "sollten wir möglichst schnell zur Sache kommen." Frank und Lisa freuten sich. Nur noch ein Gegner im Rennen. Das klang nach einer guten Chance. "Die Firma CernMatter stellt ein sehr wertvolles Produkt her. Eine Substanz, von der wir glauben dürfen, dass wir das einzige Unternehmen weltweit sind, das diese Substanz herstellen kann." "Antimaterie?", konnte sich Lisa nicht beherrschen, Mathis ins Wort zu fahren. "Das ist streng geheim, daher kann ich ihre Frage nicht beantworten. Jedenfalls macht das die Substanz sehr wertvoll und ... naja möglicherweise begehrenswert auch für andere als unsere Auftraggeber. Deshalb ist der Produktionsort auch einer der am strengsten bewachten und überwachten weltweit." "Wer ist der Auftraggeber?", fragte jetzt Frank, um sich von der anderen Kandidatin nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. "Geheim!", war Mathis knappe Antwort.

"Wir haben natürlich Maßnahmen ergriffen, nicht nur die physische Sicherheit des Produkts sicherzustellen, sondern auch dafür zu sorgen, dass keine Information darüber nach außen gelangt", fuhr Mathis fort. "Alle zwölf Mitarbeiter der innersten Sicherheitszone wurden strengen Prüfverfahren unterzogen und wohnen seit Beginn der Produktion in einem eigenen Gebäude der Produktionsstätte, das sie nie verlassen." "Wann war der Beginn der Produktion?", fragte Lisa. "Geheim!", war auch hier die Antwort. "Es gibt keine Datenleitungen von oder zu der Produktionsstätte. Alle Kommunikation erfolgt durch altmodisches Ausdrucken auf Papier, das von unserer Sicherheitsabteilung vollständig überprüft wird oder durch Telefonate, die nur zu vier fest verdrahteten Telefonen hier im Hauptgebäude geführt werden können. Ein Anzapfen der Kabel wird überwacht und ist ausgeschlossen. Die vier Empfänger, die den Code des Telefons kennen, sind der Präsident und CEO von CernMatter, der Vizepräsident und CTO sowie Pinja und meine Wenigkeit als oberste Sicherheitswächter." "Deswegen fand der Pförtner sie nicht bei den Angestellten des Personalwesens", erkannte Frank und setzte sich wieder etwas aufrechter auf seinen Stuhl. "Ja, ihre Anstellung wird nicht den normalen Gang einer Anstellung nehmen, wie sie sicher schon bemerkt haben", gab Pinja zurück. "Auch das soll geheim bleiben. Den Raum hier haben wir offiziell für ein Kundengespräch reserviert."

"Es gibt nur sechs Personen, die den innersten Bereich betreten und danach wieder verlassen dürfen", fuhr Mathis fort, "die vier genannten, eine Ärztin und ein Priester." Etwas verunsichert fragte Frank: "Wird der ausgewählte Kandidat..." "Oder die Kandidatin", fuhr Lisa energisch dazwischen, "...oder die Kandidatin auch den innersten Bereich betreten dürfen?", beendete Frank seinen angefangenen Satz. "Ja, das ist so geplant", antwortete Mathis mit einem Blick zu Pinja. "Dazu kommen wir später noch. Trotz dieser und vieler weiterer Sicherheitsmaßnahmen gibt es einige Hinweise, dass Informationen nach draußen gelangt sind, die nicht hätten nach draußen gelangen sollen. So haben unsere Ermittlungen ergeben, dass die Art der Substanz vielleicht nicht so geheim geblieben ist, wie wir es uns gewünscht hätten. Da unsere bisherigen Maßnahmen also möglicherweise nicht ausgereicht haben, wollen wir mit dieser unkonventionellen verdeckten Ermittlung einen Versuch starten, unsere Lücken zu finden und zu schließen."

"Einer von uns soll also aus den 18 möglichen Personen die undichte Stelle herausfinden", schloss Lisa aus den Ausführungen. Den Begriff verdeckte Ermittlung hörte Lisa mit Wohlwollen, da er doch eher in ihren Bereich einer Privatdetektivin passte, während ihr Gegenüber, soweit sie bei der Vorstellung mitbekommen hatte, ein Informatiker war. "Genau", ergriff jetzt Pinja das Wort. "Und in den nächsten zwei bis drei Stunden wollen wir mal sehen, wie sie das angehen würden. Dazu haben wir hier eine Auswahl der Kommunikation zwischen Production - so nennen wir unseren innersten Bereich - und Unternehmensführung. Sie haben außerdem uns zur Verfügung, um Fragen zu stellen. Und wir würden es begrüßen, wenn sie das zusammen im Team machen, da wir sie ja auch dort ins Team einschleusen müssen."

Frank sah zu Lisa und der Blick verriet, dass er den letzten Teil mit wenig Begeisterung aufgenommen hatte. Er war bisher immer ein Einzelkämpfer, beim Studium, bei der Promotion und auch jetzt im Beruf. Wie ihm jemand beim Knacken einer Geheimbotschaft helfen könnte, leuchtete ihm nicht ein. Und mit einer Frau hatte er schon gleich noch gar nie zusammengearbeitet. Er musste einfach die Initiative übernehmen. Gerade wollte er mit der ersten Frage loslegen als Lisa anfing: "Wir sollten uns als erstes überlegen, welche Information die wertvollste für einen Dieb ist. Was würden wir am meisten wissen wollen?" Frank fühlte sich bereits jetzt überfahren und wollte nun selbst die Sache fortsetzen und sagen, dass die Art der Substanz und dann wohl die Zugangscodes und Schutzmechanismen am wertvollsten sind. Aber wie er den Mund öffnete, schoss Lisa mit genau diesen zwei Punkten dazwischen und führte ihren ersten Satz fort.

"Wie wird die Substanz aufbewahrt?", war wieder Lisa ein Hauch schneller zu Wort. "Die Details sind geheim, aber es gibt verschiedene Zugangscodes und -kontrollen, die wie gesagt nur vier Personen kennen", sagte Mathis. "Nein, ich meinte physikalisch. Ist die Substanz in einem Fläschchen, einem Bleimantel, einer ...?" "Ich werde ihnen nicht verraten, um was für eine Substanz es sich handelt, Frau Aquitaine", sagte Mathis mit einem Lächeln. "Aber gut, die Substanz hat ein magnetisches Moment und wird in einer magnetischen Flasche aufbewahrt." "Elektromagnetisch?", fragte Lisa während Frank sich eher fragte, was zum Henker eine magnetische Flasche ist. Mathis lachte laut: "Nein, ganz so bescheuert wie uns manche darstellen sind wir nicht. Wir müssen die Substanz am Ende ja zum Kunden transportieren. Und da wollen wir nicht auf die Laufzeit von Akkus hoffen und bangen. Es ist ein Permanentmagnet, der stark genug ist, die Substanz festzuhalten."

"Kommunikation kann man praktisch gar nicht völlig überwachen", versuchte Frank das Gespräch wieder in seine Bahnen zu lenken. "Man kann mit dem Tragen verschiedener T-Shirts kommunizieren, das Zimmermädchen im Hotel faltet das Klopapier, um zu wissen, ob die Toilette benutzt wurde und manche packen ganze Einladungen zu Vorstellungsgesprächen in eine Unterschrift." Pinja lachte über den Humor von Frank, was diesen sichtlich freute. Lisa überlegte und sagte schließlich: "Sie haben recht." Frank war verwundert, dass seine Konkurrentin ihn so offen lobte. Doch Lisa sah Mathis an und fuhr fort: "Die wichtigste Information ist nicht die Art der Substanz, oder die Zugangscodes. Die wichtigste Information ist, wann die Produktion der Substanz abgeschlossen ist." "Woher wollen sie wissen, dass es so ein Ende gibt und dass wir nicht dauernd produzieren?", fragte Mathis gelassen. "Das haben sie doch eben gesagt! Wir müssen die Substanz am Ende zum Kunden transportieren waren ihre Worte." Mathis griff sich an die Schläfe und meinte mit einem Lächeln: "Ich habe es bereits geahnt, dass man bei ihnen sehr vorsichtig sein muss, was man sagt Frau Aquitaine."

"Das heißt aber, dass wir im Extremfall nach einer einzigen Zahl suchen, die regelmäßig kommuniziert worden sein könnte", nahm Frank erneut einen Anlauf, ins Gespräch zu kommen. Alle sahen ihn fragend an. "Ein Progress Bar eben", fuhr er fort, doch die fragenden Blicke wurden eher noch fragender. "Naja, Frau Aquitaine hat schon recht", dieser Satz kostete Frank einiges an Überwindung, "es macht doch keinen Sinn, etwas zu stehlen, das noch nicht fertig ist und das auch nur hier fertiggestellt werden kann. Also wartet man, bis das Produkt komplett produziert worden ist. Den Moment darf man aber nicht verpassen. Also lässt man sich regelmäßig angeben, zu wie viel Prozent fertig das Produkt ist. Eine Prozentzahl eben."

Frank kam eine Idee: "Darf ich einen der Computer benutzen?", fragte er. Pinja schaltete einen der Computer an und meldete Frank mit dem Gastlogin an. "Habe ich damit Zugang zu den Überwachungsvideos des Produktionsgebäudes?" Pinja lächelte mild: "Natürlich nicht." "Wie lange speichern sie die Videos?", wollte Frank wissen. "Wir löschen keine der Videos während der gesamten Produktion", meinte Pinja, "aber die Videos sind eigentlich nicht für diese Sitzung eingeplant." "Schalte sie ihm frei", sagte Mathis, "aber sie werden ihre Zahl nicht auf den Videos finden. Wir haben selbst schon sehr genau geprüft, dass keine Botschaften an den Fenstern oder Wänden der Gebäude angebracht wurden."

Lisa trat hinter Frank. Sie hatte verstanden. "Sie suchen die Putzfrau", sagte sie zu Frank2. Genau", drehte er sich kurz zu Lisa um ohne den verwirrten und fragenden Blick von Frau Rieki und Herrn Dupont zu übersehen. "Es gibt keine Putzfrau in der Produktion. Jeder putzt und wäscht selbst", sagte Pinja unsicher. "Beziehungsweise erst einmal das Klopapier", fuhr Frank fort und ignorierte dabei den Einwand von Pinja. "Können sie uns einzelne Bilder aus den Videos ausschneiden?", fragte Lisa und überging Pinja ebenfalls. "Klar, wenn die richtigen Programme installiert sind", meinte Frank und fühlte sich sichtlich wohl in seiner Expertenrolle, obwohl das Bearbeiten von Videos und Bildern natürlich nicht gerade Expertenniveau bedurfte. "Dann schneiden sie uns doch mal ein altes und ein aktuelles und vielleicht noch eines dazwischen aus", wies Lisa Frank an.

Frank nahm von den acht Überwachungskameras die vier, die die vier Seiten des Gebäudes frontal zeigten. Dann schnitt er von jeder Ansicht ein Bild zur selben Zeit aus jeweils vom ältesten, neuesten und einem dazwischen liegenden Video. Er legte die drei zusammengehörenden Bilder übereinander und blätterte unter den Blicken der anderen zwischen diesen Bildern hin und her. "Kamera 7", sagte Lisa aufgeregt. "Holen sie uns ein Bild pro Woche von Kamera 7", sagte sie ergänzend. Frank blätterte noch einmal die drei Bilder von Kamera 7 durch und nickte leicht. "Das dauert jetzt etwas", meinte er und sah mit einem Blick auf die Uhr, dass die erste Stunde dieses Bewerbungsgesprächs schon vergangen war.

Pinja und Mathis kamen sich reichlich überflüssig vor. Sie waren nicht sicher, was die beiden da trieben, wollten aber den Dingen ihren Lauf lassen, da sie letztendlich ja wissen wollten, ob sie den Bewerbern diese Tätigkeit zutrauen konnten. Nach 15 Minuten blätterte Frank den inzwischen erstellten Zeitraffer Bild für Bild durch. Lisa machte sich Notizen und wies Frank von Zeit zu Zeit an, langsamer oder schneller durch die Bilder zu blättern. Lisa zeigte Frank die Notizen und nach einem Nicken wandte sie sich an Pinja und Mathis. "Kann es sein, dass ihre Produktion vorletztes Jahr im Dezember begonnen hat, dass sie im März und Mai dieses Jahr Produktionsprobleme hatten und dass sie inzwischen etwa 95% der Produktion abgeschlossen haben?" Pinja wurde bleich, Mathis noch bleicher. "Wie kommen sie darauf?", fragte Mathis nach einer Pause, deren Länge allein schon verriet, dass sie richtig lagen.

Frank führte den beiden ihren Film vor, Bild für Bild. "Achten sie auf die Pflanze im zweiten Zimmer von links im ersten Stock. Sie wandert. Der Progress Bar. Am 5. Dezember erscheint zum ersten Mal die Pflanze ganz links im Fenster. Dann wandert sie sehr gleichmäßig nach rechts. Im März steht sie fast still, im Mai ganz. Inzwischen ist sie fast am rechten Rand des Fensters angelangt", erklärte Frank mit einigem Stolz. Mathis nahm sein Handy, hämmerte eine Nummer ein und fragte jetzt nicht mehr so freundlich in den Apparat: Mathis hier. "Wer wohnt in Production im ersten Stock im zweiten Zimmer Nord-West?" Nach einer Pause und einem "Schaue einfach nach!" schloss er mit einem "Ok, danke!" und legte auf. Er flüsterte Pinja den Namen ins Ohr und wandte sich dann an Lisa und Frank: "Gute Arbeit! Sie haben in drei Stunden herausgefunden, was wir in einem halben Jahr mit zehn Leuten nicht geschafft haben. Wir kennen jetzt die undichte Stelle. Damit brauchen wir sie gar nicht mehr. Sie haben uns sehr geholfen. Vielen Dank." Lisa zuckte zusammen, Frank erstarrte, Pinja wunderte sich. Aber Mathis lächelte: "Man darf auch in so einer ernsten Situation den Humor nicht verlieren. Das war natürlich nur Spaß. Wir sind immer noch sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Und um auch das jetzt vorwegzunehmen: an einer Zusammenarbeit mit ihnen beiden. Wir wollten nur sehen, ob das auch passt. Das können wir jetzt glaube ich wohl annehmen. Jetzt hoffe ich auch, dass wir sie von unseren Konditionen überzeugen können. Aber zuerst einmal sehen wir uns die Production an. Pinja zeigt ihnen alles, was nicht streng geheim ist, damit sie wissen, worauf sie sich einlassen und ich habe dort ein Gespräch zu führen."